Hallo liebes Leben,
auf bizarre Art und Weise fällt es mir sehr schwer, Dir diesen Brief zu schreiben. Welcher Deiner Janusköpfe wird ihn wohl lesen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich beide deiner Gesichter kenne.
Deine eine Seite möchte ich anschreien, fragen, was das alles soll. Ich möchte ihr die Steine hinterherwerfen, die sie mir in den Weg legt, um mich anschließend darüber aufzuregen. Dabei merke ich jedoch häufig nicht, dass so mancher Stein formbarer Lehm ist, der mehr Chance als Hindernis ist. Vielleicht sollte ich nicht alles so oft als negativ erachten und die Lehmklumpen von den Steinen trennen.
Doch dann sitze ich vor meinen Lehmklumpen und weiß nicht, was tun. Michelangelo musste seinen Marmor nur ansehen und wusste, dass David in ihm steckte. Was steckt dann wohl in meinen Klumpen? Auch ein perfekter David? Oder die Venus von Milo? Ich schätze, ich bekomme keines von beiden, denn – ehrlich gesagt – würde ich keines von Dir wollen. Mein Lehm soll nach meinem Können und Willen geformt werden. Ich möchte ihn verbiegen, kneten, drehen, daran verzweifeln, ihn wieder umformen und ihm beim Entstehen und mir beim Wachsen zusehen. Sie werden alle nicht perfekt werden, aber das ist auch nicht ihr Zweck. Ihre Makel, Kratzer und Dellen machen sie einzigartig und zu einem Teil, in dem ich meinen persönlichen Fingerabdruck hinterlassen kann. Mit jedem Stück wird meine persönliche Skulptur klarer. Wie sie dann am Ende aussieht und wie viele Steine Du noch auf sie werfen wirst, weiß ich nicht. Ich gedenke nur sie zu formen mit Ausdauer und Kraft, Geduld und Akzeptanz, und wenn ich sie dann vor mir stehen sehe, so werde ich sie schützen, mit all der Liebe und Freude, die in mir gewachsen ist.
Nein, ich bin froh, dass mein Lehm nicht vorgeformt ist, denn so bin ich frei ihn mir anzupassen und stolz auf das, was ich aus ihm gemacht habe. Dafür möchte ich Dir danken.
Oft zeigst Du mir jedoch auch Dein freundliches Gesicht. Es muss nicht immer ein Wunder sein. Manchmal sind die kleinsten Gesten die schönsten. Ich freue mich, wenn du mich manchmal vom Lehm und den Steinen wegziehst und mich zwingst, mich umzuschauen. Dann sehe ich die Blumen, die auf meinem Weg stehen. Für einen kurzen Augenblick ist dann alles perfekt. Die Steine sind egal, denn ich sehe nur die Blumen, die Du mir zeigst. Mir ist dann egal, was noch alles vor mir liegt und was alles schon vergangen ist, denn ich sehe nur die Blumen. Nicht immer wirst du mir diese zeigen, denn ich weiß, dass mein Glück im Kontrast zur Anstrengung viel mehr leuchtet, dass ein Mensch schlechte Zeiten braucht, um sich der guten zu besinnen. Das ist in Ordnung und dennoch blicke ich sie gerne an. Sie erinnern mich an das Vergangene und motivieren mich für das Kommende. Dann ist es gut seine Hände aus dem Lehm zu halten und sich eine Pause zu erlauben. Ich blicke dann nach vorne und sehe, dass mein Weg nicht gerade verläuft. Ich sehe Windungen, Hügel und Täler. Mancher Weg ist von Bäumen gesäumt, während mich ein anderer auffordert, sie selbst zu pflanzen.
Dabei wirst Du mein ständiger Begleiter sein und mir von Zeit zu Zeit sowohl die Steine als auch die Blumen präsentieren. Ich danke Dir, dass ich an meinen Aufgaben wachsen kann und meine Probleme als Chancen zu betrachten pflege. Auch wenn es scheint, als hättest Du ein ganzes Kieswerk über mir ausgeschüttet, so sehe ich am Rand die zarten Wildblumen stehen und erkenne den Sinn meiner Anstrengungen. Wenn zeitweise meine Lehmklumpen nur unförmig entstehen und mein Auge für das Schöne verschlossen bleibt, dann weiß ich dennoch, dass auch der größte Stein irgendwann überwunden ist. Es wird vorübergehen, und das ist, wie ich finde, eine tolle Erkenntnis.
Danke!
Deine Alison
Artikel: Alison Strauch