Studium: Textiltechnologie

‚Die Schulzeit ist die schönste Zeit‘ oder ‚Dieser Weg wird kein leichter sein‘

Hallo liebe Schüler,
Vor einigen Jahren saß ich genau dort, wo ihr gerade sitzt. Im Juli 2006 machte ich mein Abitur am Wirtschaftsgymnasium in Tauberbischofsheim. Nach einer einjährigen Pause in Australien studiere ich heute Textiltechnologie und Textilmanagement an der technischen Hochschule in Reutlingen und beginne dort im kommenden Oktober mein drittes Semester.

“ Die Schulzeit ist die schönste Zeit!“

Diesen Satz hört ihr sicherlich zu Genüge von Eltern oder Bekannten – und das meistens dann, wenn ihr gerade dabei seid alle negativen Seiten von Schule, Lehrern und des deutschen Bildungssystems in vollstem Ausmaß zu erörtern. Keine Angst, ich möchte mich nun nicht auf die Seite derer schlagen, die euch mit dieser Aussage oft genug zur Weißglut treiben und den Zeigefinger erheben. Doch macht euch frühzeitig bewusst, dass sich nach der Schule vieles schlagartig ändern wird. Von einem Tag auf den anderen werdet ihr aus dem Schonraum Schule entlassen, welcher euch jahrelang bereitwillig von Lehrern und Eltern gestellt wurde.
Den oben zitierten Satz möchte und kann ich nicht bestätigen, denn ich muss zugeben: bereits ab der fünften Klasse ging ich selten gern zur Schule und nach dem bestandenen Abitur hätte ich vor Freude zum Mond springen können. Keiner sollte glauben, dass nur die Schulzeit schön ist, auch in der späteren beruflichen Ausbildung oder dem zukünftigen Arbeitsplatz kann man seine Erfüllung finden – und die Zeit möglicherweise mehr genießen als in der Schule. Der große Unterschied: von nun an hängt es an euch! Frisch aus der Schule entlassen, werdet ihr nach kurzem sagen: “ Jetzt fängt das harte Leben an.“ Doch das wäre gelogen. Das Leben war schon immer hart. Nur bisher hielten Lehrer und Eltern nur allzu oft Enttäuschungen, Niederlagen und schwere Entscheidungen von euch fern. Vieles, was euch früher von Lehrern abgenommen oder worum sich eure Eltern gekümmert haben, bleibt nun an euch hängen.
Und somit möchte ich den oben genannten Satz korrigieren: „Die Schulzeit ist die behüteste Zeit!“

Gut zwei Jahre sind seit meinem Abitur vergangen. In dieser Zeit habe ich nur allzu oft gemerkt, worauf es ankommt. Egal, in welcher Situation – ob im Ausland, im Praktikum, in der Wohngemeinschaft oder im Hochschulalltag – ich stieß immer wieder auf drei Charaktereigenschaften, die ich mir mehr und mehr zu Nutzen machte. Diese möchte ich euch mit auf den Weg geben und euch raten: Eignet sich euch so schnell wie möglich an!

Eigeninitiative

Man könnte sagen, dass mit dem Abschluss der schulischen Laufbahn und dem Beginn eines Studiums ihr praktisch zu eurem eigenen Chef werdet. Achtung: Hört sich besser, an als es ist! Denn die Entscheidung, die Vorlesung ausfallen zu lassen, fällt sich leicht und schnell – das böse Erwachen kommt erst vor der Prüfung, wenn man bemerkt, welche Informationen und Unterlagen fehlen. Klärt im Vorhinein ab, wer euch Kopien mitbringt, falls ihr krank seid oder aus andern Gründen nicht anwesend sein könnt. Der Dozent wird, im Gegensatz zu den Lehrern in der Schule, in der darauffolgenden Vorlesung kein Verständnis für Wissenslücken haben, geschweige denn bemerken, dass ihr gefehlt habt oder gar euch Unterlagen hinterher tragen. Früher bestimmte der Lehrer die richtigen Zeitpunkte für Klausuren. Ob es sinnvoller ist eine Klausur ins nächste Semester zu schieben oder sofort zu schreiben, ist nun einzig und allein eure Entscheidung. Selten wird euch gesagt werden, welches Buch sinnvoll ist und wo es in der Bibliothek zu finden ist. Ihr müsst es selbst herausfinden. Den Rat, in der Bibliothek möglicherweise über eine Stunde nach einem hilfreichen Buch zu suchen, gibt euch keiner, auf solche Dinge müsst ihr selber kommen. In der Schulzeit warnen euch Lehrer vor, sollte die Gefahr bestehen einen Unterkurs oder eine schlechte Note zu kassieren. Möglicherweise wird euch sogar zur Nachhilfe geraten und gleich dazu noch ein Nachhilfelehrer besorgt. Ob ihr alleine mit dem Stoff zu Recht kommt oder euch lieber mal umhört, wer bereit wäre mit euch eine Lerngruppe zu gründen, liegt ab sofort an euch. Vielleicht wollt ihr ein Tutorium gründen, dann müsst ihr bereit sein von Professor zu Professor zu rennen und viel Zeit hierfür einzuplanen.
Ihr könnt euch nicht mehr darauf verlassen, dass wichtige Entscheidungen von anderen getroffen werden. Kümmert euch um euere Sachen und seid bereit euch dafür auch einzusetzen, denn ein anderer wird es nicht mehr tun.

Individualität

Eine kleine Episode: Aufgrund meines ingenieurwissenschaftlichen Studiengangs musste ich in meinem zweiten Semester eine Reihe von wissenschaftlichen Versuchen im hochschuleigenen Physik-Labor durchführen. Am jeweilig darauffolgenden Nachmittag musste der Versuch ausgewertet bei unserem Physik-Professor abgegeben werden. Dies tat ich mit den Worten: „Hallo!“ Hier mein Versuch zur radioaktiven Strahlung, vielen Dank, auf Wiedersehen!“ Der Tür schon zugewandt wurde mir nachgerufen: „Textil oder Mechatronik?“
Am gleichen Tag bat ich nach einer Vorlesung einen meiner Dozenten um Auskunft über die neue Studienordnung, noch bevor ich mein Anliegen vorgetragen hatte, unterbrach er mich: „Welches Semester sind Sie?“ Wow, ich war erstaunt, immerhin wusste er, welchen Studiengang er gerade unterrichtete. Ein paar Stunden später saß ich im Studierendenbüro, da mir vorgeworfen wurde, ich hätte meine Studiengebühren nicht bezahlt. Später klärte sich auf, dass auf der Überweisung lediglich mein Name und nicht meine Matrikelnummer vermerkt war, somit konnte mein Geld nicht zugeordnet werden. Gegen Abend machte ich mich auf den Heimweg, im Gepäck meine neue Campus-Identität! Vorname: 672 362 Nachname: Textil 2.
Da ich an einer Hochschule studiere, ist unser Semester wie ein Klassenverband mit festem Stundenplan organisiert. Ich kann also mit Freude berichten, dass ich die 49 Kommilitonen meines Studiengangs alle mit Namen kenne und mich mit allen schon mehrmals unterhalten habe. An der Universität kommt es oft vor, dass in jeder Vorlesung andere, neue, fremde Studenten neben dir sitzen. Doch egal, ob Hochschule oder Universität: für die Professoren und Angestellten ist und bleibt man „einer von vielen“.
Passt auf, dass ihr nicht zu schnell im Strudel der Masse untergeht. Macht euch besonders, hebt euch hervor. Später in der Bewerbung will der Personalchef sehen, wodurch ihr euch von anderen abhebt, wenn ihr ein Bild abgebt wie Tausend andere, landet die Bewerbung schnell im Eimer. Engagiert euch im Fakultätsrat, stellt euch für das Sportprogramm als Übungsleiter zur Verfügung oder übernehmt ohne Bezahlung Schichten in der Hochschul-Kneipe – und das sollen nur wenige Beispiele sein. Beginnt frühzeitig eure Talente einzusetzen, das bringt nicht nur Spaß und neue Bekanntschaften mit sich, sondern füllt die Zeile „ehrenamtliche Aktivitäten“ im Lebenslauf und hilft vor allem dabei sich von Kommilitonen durch mehr als nur eine Matrikelnummer zu unterscheiden.

Hilfe annehmen

In einer neuen Stadt mit fremden Leuten werdet ihr früher oder später in Situationen kommen, die alleine schwer zu meistern sind. Schüttelt zuallererst euren Stolz ab und lasst euch helfen. Versucht nicht, alles alleine meistern zu wollen. Bietet der Mitbewohner einen kleinen Stadtrundgang an oder bemerkt der Kommilitone, in welchem Fach ihr nicht so recht mitkommt, und fragt darum, ob er dir mal in Ruhe was erklären kann, dann sind das sehr wertvolle Angebote, die ihr auf jeden Fall immer annehmen solltet. Lehrer und Eltern sind nicht mehr um euch, deswegen wird es für euch genügend neue und schwierige Situationen geben. Doch das ist alles zu meistern, vor allem mit netten, hilfsbereiten Kommilitonen. Wir leben zwar in einer Ellenbogengesellschaft, doch wird es auch Menschen geben, die euch gerne helfen.

Der Weg von der Schule zur Ausbildung oder zum Studium wird sicherlich kein einfacher sein. Aber es wird ein schöner sein, solange ihr bereit seid, um Dinge zu kämpfen, eure Persönlichkeit nicht zu verlieren und Hilfe anzunehmen. Für diesen Weg wünsche ich euch alles Gute und viel Erfolg. Und denkt daran, auch Umwege können zum Ziel führen!

Artikel: Britt Hummel

Materialien für Lehrer und Schüler

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