Unsere Gesellschaft ist vielfältig – in vielerlei Hinsicht. Das kann ich schon an meinem eigenen Freundeskreis erkennen. Da gibt es Große und Kleine, Dicke und Dünne, die einen mit heller und die anderen mit dunklerer Hautfarbe. Sie gehen zur Schule, absolvieren eine Ausbildung, studieren oder sind bereits berufstätig. Einige von ihnen leben bei nur einem Elternteil, andere in einer Großfamilie mit fünf Geschwistern. Und sie haben ihre Wurzeln in den unterschiedlichsten Ländern – oder wie man heutzutage auch sagt: einen Migrationshintergrund. Jeder Mensch lebt anders, jeder Mensch ist anders. Wir besitzen viele Eigenschaften, die uns voneinander unterscheiden und damit „anders“ sein lassen. Ist das nun gut oder schlecht, richtig oder falsch?
Ohne unterschiedliche Zutaten keine köstliche Mahlzeit
„Guten Tag, was darf es sein?“ – „Ein vegetarischer Döner ohne Zwiebeln und ein kleines Wasser, bitte“, antworte ich. Meine Freundin Su und ich stehen mit knurrendem Magen an einem Döner-Stand. Der Mann hinter der Glastheke dreht sich um, greift nach einem warmen Fladenbrot und schneidet es auf. Bei meiner fleischlosen Variante geht er, am Dönerspieß vorbei, direkt zur Theke mit der frischen Rohkost. „Welche Sauce?“, fragt er mit leichtem Akzent. „Die mit Kräutern.“ Durch die Glasscheibe beobachte ich, wie er das Fladenbrot mit einer bunten Vielfalt an Zutaten füllt: Weißkraut, Rotkraut, Karottenstreifen, Mais, vier Scheiben Tomate und schließlich die Kräutersauce. Er reicht mir den fertigen Döner in einer Serviette und mein Getränk über den Tresen. „Hier, bitteschön. Das macht 4,70 €.“ Ich zahle und nehme meine Mahlzeit entgegen. Su hält ihren Döner mit Fleisch bereits in Händen. „Bist du soweit, Janine?“, fragt sie mich. Mit den lecker duftenden Dönern schlendern wir durch die Fußgängerzone und lassen uns schließlich auf einer Bank nieder.
Wenn ein fremdes Land zur zweiten Heimat wird
Nachdem ich einen Schluck Wasser getrunken und die Flasche neben mir auf die Bank gestellt habe, beiße ich ein großes Stück von meinem türkischen XXL-Sandwich ab. „Su, was heißt ‚Döner Kebab‘ eigentlich auf Deutsch?“ Als gebürtige Türkin weiß sie das natürlich. „Nun ja, ‚Döner‘ heißt ‚sich drehend‘, und ‚Kebab‘ kann man mit ‚Fleisch‘ übersetzen. Sich drehendes Fleisch also.“ – „Dann ist mein vegetarischer Döner ja gar kein richtiger Döner“, entgegne ich grinsend. Wir lachen beide. Dass Su aus der Türkei kommt, weiß ich, seit ich das erste Mal ihren Namen gelesen und mich über das fehlende „e“ gewundert habe. „Su ist türkisch und bedeutet Wasser“, erklärte sie mir damals. Geboren ist sie in Izmir, einer Großstadt im Westen der Türkei. Dort lebte sie mit ihrer Familie bis zu ihrem fünften Lebensjahr. „Warum seid ihr denn nach Deutschland gekommen?“, frage ich neugierig. „Mein Vater ist politischer Karikaturist. Als ich vier Jahre alt war, erhielt er ein Angebot für eine Ausstellung seiner Zeichnungen in Deutschland. Also flog er nach Köln, und dort gefiel es ihm so gut, dass er bleiben wollte.“ Ein Jahr später kamen ihre Mutter und sie nach. Seither lebt die gesamte Familie in Deutschland. „Zum Glück, sonst würden wir jetzt nicht nebeneinander sitzen“, füge ich mit einem augenzwinkernden Lächeln hinzu.
Wer bin ich?
„Janine, wo kommst du eigentlich her?“, fragt Su nun mich. Ich berichte ihr, dass meine Mutter von den Philippinen stammt und mein Vater gebürtiger Deutscher ist. „Aus genetischer Sicht bin ich also zur einen Hälfte Ausländerin und meine andere Hälfte ist deutsch, so wie die Mehrzahl der Menschen in diesem Land.“ Su fragt weiter: „Fühlst du dich eher deutsch oder eher philippinisch?“ Ich denke kurz nach. „Ehrlich gesagt: weder – noch. In erster Linie fühle ich mich als Mensch. Mit meinem Denken, meinen Eigenschaften, meinen Macken und meinem Aussehen, also mit allem, was mich von allen anderen unterscheidet. Geboren und aufgewachsen bin ich hier, und Deutsch ist meine Muttersprache. Deswegen fühle ich mich auch als Deutsche, mit dem kleinen Nebeneffekt, dass man mir das nicht ansieht.“ – „Und was ist mit deinen philippinischen Wurzeln?“ – „Durch die Herkunft meiner Mutter fühle ich mich natürlich auch mit den Philippinen verbunden. Das wurde mir bewusst, als wir dort im vergangenen Jahr unsere Verwandten besuchten. Sobald ich mich aber außerhalb des familiären Umfelds bewegte, spürte ich die erstaunten Blicke der Leute. In einer kleinen Provinzstadt wie Cabiao begegnet man schließlich nicht jeden Tag einem ‚weißen‘ Mädchen. Für die echten Filipinos bin ich, anders als hier, hellhäutig. Deutschland hingegen ist mittlerweile überwiegend so weltoffen und tolerant, dass du dich nicht fremd fühlst, wenn du nicht ‚typisch deutsch‘ aussiehst.“ – „Das finde ich auch. Hier leben viele Menschen aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern, so dass es zum Alltag gehört, wenn beispielsweise jemand eine andere Hautfarbe hat oder wenn in einer Gaststätte etwas anderes als nur typisch deutsches Essen auf der Speisekarte steht.“ Dabei hält sie den verbliebenen Rest ihres Döners demonstrativ in die Höhe. „Da hast du Recht, Su. Wenn ich nach links und rechts schaue, sehe ich außer dem Döner-Stand auch ein griechisches, ein italienisches und sogar ein mexikanisches Restaurant. Und gutes Essen gibt es bei ihnen allen.“
Ohne Vielfalt keine lebendige Gesellschaft
Obwohl wir beide im selben Land wohnen, unterscheiden Su und ich uns in vielen Dingen. Sie kam aus der Türkei hierher, bei mir war es die Mutter, die nach Deutschland kam. Su musste die deutsche Sprache erst erlernen, ich bin mit ihr aufgewachsen. Sie hat hell getöntes, welliges Haar, ich habe dunkles, glattes Haar. Sie mag ihren Döner mit, ich meinen lieber ohne Fleisch. Trotz aller äußerlichen, „oberflächlichen“ Unterschiede verstehen wir uns und sind sehr gute Freundinnen. Und genau so ist es richtig. Die wirklich wichtigen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen zeigen sich nicht in Äußerlichkeiten. Wie schon in Antoine de Saint-Exupérys weltbekannter Geschichte der Fuchs zum kleinen Prinzen sagt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Jeder Mensch ist anders – unabhängig davon, wo er wohnt und aus welchem Land er ursprünglich kommt. Unsere Gesellschaft ist nun mal vielfältig – in gewisser Weise vergleichbar mit den beiden Dönern, die wir inzwischen aufgegessen haben. Wären auf einem Döner Kebab nicht so viele unterschiedliche Zutaten, würde er nicht so gut schmecken. Erst seine bunte Vielfalt macht ihn zu einem richtig leckeren Gericht.
An jenem Tag wurde mir wieder einmal bewusst, dass es in einem Land wie dem unseren nichts Ungewöhnliches ist, ausländisch auszusehen. Bis vor wenigen Jahren habe ich mich oft gefragt, warum ausgerechnet ich mich durch mein asiatisches Aussehen von den anderen unterscheide, warum gerade ich „anders“ bin. Inzwischen bin ich froh darüber, nicht durch farbloses Gleichsein in der Menge unterzugehen. Jeder von uns ist auf seine individuelle Art und Weise anders als alle anderen – und damit einzigartig in unserer vielfältigen Gesellschaft. Mit diesem Bewusstsein ist es uns möglich, unseren Mitmenschen ohne Vorurteile zu begegnen, sie in ihrem Wesen wahrzunehmen und ihnen Wertschätzung entgegenzubringen.
Fotos:
Dönerleben: „Florian Lemke“ / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nd)
Asia-Deutsche Küche und Döner Kebab: „Antonia Bartning“ / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)
Materialien für Lehrer und Schüler
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