Amokdrohung an meiner Schule

Als ich an diesem Morgen aus dem Bus stieg, schien alles zu sein wie üblich: Schülermengen strömten aus den Bussen und in kleinen Gruppen in Richtung Schulgebäude, ein lautes Durcheinander aus Stimmen, Lachen. Es waren nur noch wenige Tage bis zu den Sommerferien, und Schüler sowie Lehrer waren bereits in Ferienstimmung. Ich dachte an meinen Stundenplan, als Erstes hatte ich an diesem Tag „Chemie“. Während ich noch überlegte, welche Fächer mir außerdem noch bevorstanden, traf ich auf einige meiner Mitschüler, man begrüßte sich, alles schien normal. Die erste Besonderheit bemerkten wir beim Betreten des Schulhofs. Auf der anderen Straßenseite, dort, wo sich die älteren Schüler in den Pausen zum Rauchen versteckten, parkte ein Polizeiwagen. Zwei Beamte lehnten links und rechts am Wagen und beobachteten die Schüler, die auf das Schulhaus zugingen. Zwar wunderte ich mich, was passiert sein konnte, und vermutete, dass unser Schulleiter so etwas gegen das heimliche Rauchen jener Schüler unternehmen wollte.
Eigentlich fing es erst an, als ich mein Klassenzimmer betrat. Irgendwas stimmte nicht, die Stimmung im Raum war eine andere als an sonstigen Morgen. Niemand schrieb hektisch Hausaufgaben ab, und es hatten sich auch keine kleinen Gruppen gebildet, die über das letzte Wochenende lachten, – die gesamte Klasse hatte sich um einen Mitschüler versammelt und hörte ihm gespannt zu. Ich setzte mich zu ihnen und erfuhr, dass auch im Schulhaus Polizisten gesehen worden waren. Langsam wurde ich doch sehr unruhig. Nur wegen ein paar Zigaretten so einen Aufwand betreiben? Das machte keinen Sinn.

Doch dann erklang die Schulglocke und die Unterrichtsstunde begann. Beziehungsweise – dass sollte sie. Unser Lehrer tauchte jedoch nicht auf. Zwanzig Minuten zu spät kam er schließlich in das Klassenzimmer und meinte, die Schule falle heute aus und wir sollten nach Hause gehen. Zunächst freuten sich alle, doch dann erklärte er uns den Grund für unseren freien Nachmittag: Im Internet hatte jemand eine Amokdrohung veröffentlicht. Sofort schossen mir Hunderte Gedanken durch den Kopf. Kenne ich den Täter? Wer ist es? Wie kommt jemand auf die Idee, einen Amoklauf anzudrohen? War der Täter vielleicht sogar unter uns? Ich musste an meinen Bruder und meine beste Freundin denken, die auch auf diese Schule gehen. Was, wenn ihm etwas passieren würde? Daran wollte ich gar nicht denken. Als ich mich im Klassenzimmer umsah, blickten meine Mitschüler alle ins Leere. Jeder schien in Gedanken zu sein, und alle standen unter Schock. Vor wenigen Monaten hatte es in Winnenden einen Amoklauf gegeben, bei dem mehrere erschossen wurden. Die Medien hatten wochenlang kein anderes Thema gekannt. Damals hatte ich oft darüber nachgedacht, wie ich wohl reagieren würde, sollte ich jemals in eine solche Situation kommen. Ich hatte erwartet, dass ich nervös werden würde, hektisch. Dass ich versuchen würde, irgendwie aus dem Schulhaus zu entkommen oder mich zu verstecken.

Die Realität sah jedoch vollkommen anders aus. Ich wollte mich nicht bewegen, ich war wie gelähmt. Es fühlte sich an, als gäbe es keinen Ort auf dieser Welt, an dem man mehr sicher war, kein Platz, der einem Schutz bieten könnte. Vor was soll man sich verstecken, wenn man nicht weiß, was einen bedroht? All die Dinge, die mir zuvor noch Sorgen gemacht hatten, waren plötzlich zu Kleinigkeiten geschrumpft. Mein Chemielehrer riss mich aus meinen Gedanken, wir sollten nun alle die Schule verlassen und zurück zu den Bussen laufen. Ich bekam Panik, unsere Schule war groß, und was sollten wir tun, wenn uns plötzlich ein Schüler mit einer Waffe gegenüber stehen würde? Was mich am meisten verunsicherte, war die Stille. Unsere Schule hat mehr als 900 Schüler und Lehrer, niemals ist es dort ruhig. Doch obwohl all diese Schüler und Lehrer jetzt beinah gleichzeitig durch die Flure gingen, hörte man fast nichts. Niemand sagte auch nur ein Wort, und man konnte in den Augen jedes Einzelnen sehen, dass er sich bloß wünschte, dass alles ein gutes Ende nimmt. Als wir den Schulhof betraten, löste sich meine Anspannung in Erleichterung auf. – Jetzt konnte nicht mehr viel passieren.
Am Nachmittag verbreitete sich die Nachricht dann wie ein Lauffeuer: Die Drohung war lediglich ein Scherz. Unfassbar, eine Achtklässlerin hatte sich einen Spaß daraus gemacht, eine anonyme Amokdrohung ins Internet zu stellen. Ernst gemeint hatte sie diese nicht. Die Ängste, die meine Mitschüler und ich an diesem Morgen verspürten, waren unbegründet gewesen. Und obwohl es sicherlich seltsam klingt, irgendwie bin ich froh um diese Erfahrung. Man lernt eine Menge über sich selbst, und darüber, was im Leben wirklich wichtig ist.

Artikel: Carolin Kaiser

 

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