Hier der Schmerz einer 18-Jährigen von 1993, als sich Kroatien, Bosnien und Herzegowina von Jugoslawien lossagten. Meine damalige Wirtschaftsschülerin Ivanka Nujic (Kaufmännische Schule Kirchheim-Teck) schrieb ihre Angst um ihren Freund im Krieg nieder. Diese Zeilen des Schmerzes vor dreißig Jahren sind bis in die Formulierungen hinein identisch mit den so berührenden Berichten ukrainischer Jugendlicher. Geschichte mag sich vielleicht nicht wiederholen, der Schmerz Jugendlicher im Krieg sehr wohl! Klaus Schenck
Kurz bevor die Serben Kroatien mit Krieg überzogen, hatte ich ihn kennengelernt: meinen Traummann. Er sah nicht nur gut aus, er besaß auch einen tollen Charakter. Je länger wir zusammen waren, desto besser verstanden wir uns. Aber bald mussten wir uns trennen. Ich musste wieder nach Deutschland und er zur Armee in Kroatien. Er war ein Kroate aus Bosnien.
Ich kann es nicht beschreiben, wie ich mich an diesem Tag des Abschieds fühlte. Obwohl wir uns versprachen, Briefe zu schreiben, glaubte ich nicht so recht daran. Aber ich hatte mich getäuscht. Fast jeden Tag schrieben wir uns, und ich glaube, dadurch sind wir einander noch nähergekommen. Wenn ich nach Bosnien fuhr, kam er auch; wir waren wieder beisammen, und die Welt war wieder schön.
So ging es ein Jahr; dann kam der Krieg. Ich reiste noch einmal nach Bosnien. Mein Freund kam auch dieses Mal nach Hause, obwohl es gefährlich war. Wir verbrachten noch einmal zwei viel zu kurze Tage zusammen, dann mussten wir uns wieder trennen. Der Abschied fiel uns schwer, so schrecklich schwer…
Auf dem Weg zurück nach Deutschland weinte ich. Damals wusste ich noch nicht, dass ich meine Freunde, mein Haus und alles, was ich liebte, zum letzten Mal gesehen hatte. Ich hoffte so sehr, dass der Krieg bald aufhöre, aber es wurde immer nur schlimmer. In den Fernsehnachrichten sah ich grausige Bilder von meiner Heimat. Ich hatte Angst um meine Großeltern, meine Freunde. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, erreichte uns eine neue schlechte Nachricht. Zu Hause weinten alle. Ich versuchte nur, sie zu beruhigen. Erst wenn mich niemand sah, weinte ich heimlich. Wo war jetzt mein Freund? Lebte er noch? Wo sind alle anderen geblieben? In seinem letzten Brief hatte mein Freund geschrieben: „Gib die Hoffnung nicht auf! Es wird alles wieder so wie früher…“
Wieder klingelte das Telefon, und mein Vater ging ran. Bald legte er auf. Er schaute mich schmerzerfüllt an, und ich hatte Angst vor dem, was er mir sagen würde. Ich betete zu Gott, dass es nicht um meinen Freund gehe. Mein Vater sagte nur: „Luka ist tot.“ Also nicht mein Freund, aber Luka, der wie ein jüngerer Bruder für mich gewesen war. Alles drehte sich um mich herum: dann wurde es mir schwarz vor den Augen.
Als ich aus der Ohnmacht erwachte, war mein Kopf leer. Jeden Tag starben einige Burschen, keiner war älter als zwanzig. Manche waren meine Schulkameraden gewesen. Die Leute gewöhnten sich schon an das Leid, aber ich konnte mich nicht damit abfinden. In dieser Zeit verlor ich auch viele deutsche Freunde, und in der Schule wurde ich immer schlechter.
Von meinem Freund hörte ich nichts mehr, und das brachte mich fast zur Verzweiflung. Eines Tages klingelte früh am Morgen das Telefon, und ich hörte die Stimme meines Freundes. Er sagte, er sei in Kirchheim und wolle mich sehen. Ich konnte es nicht fassen, aber er war wirklich da! Als ich ihn sah, erkannte ich ihn fast nicht wieder. Er war so anders – ich weiß nicht, wie – aber anders. Der Krieg verändert die Menschen. Wir redeten über unsere Freunde, die noch lebten, und über die, die schon tot waren. Er erzählte mir von meinem Haus, und ich fühlte mich wieder so richtig daheim.
Eine Stunde verging sehr schnell, und er musste wieder zurück. Ich schenkte ihm einen Ring als Glücksbringer. Zum Bahnhof konnte ich ihn nicht begleiten, ich hätte es nicht geschafft. Er wischte mir die Tränen ab und lächelte, obwohl auch er nasse Augen hatte. Wir konnten uns nicht trennen. Ich drehte mich um und sagte, er solle gehen. Als er schon ziemlich weit weg war, wandte ich mich wieder um und sah ihn noch einmal – wahrscheinlich zum letzten Mal. Ich wünschte ihm von Herzen Glück und hoffte, sie würden es schaffen, unser Land und unsere Häuser zu verteidigen.
Lange Zeit erfuhr ich nichts mehr von ihm. Dann hörte ich noch einmal seine Stimme am Telefon. Er sagte nur, alles sei vorbei: Unser kleines Odzak sei von Serben besetzt. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Es bleiben mir nur die Erinnerungen.
Artikel: Ivanka Nujic, 18 Jahre (1993)
Veröffentlicht: „FAZ“, 6. Sept. 1993, S. 35: „Jugend schreibt“ (die Rechtschreibung wurde angepasst)
Kriegsfotos: Dmytro Katyukha: „Gedicht eines 17-Jährigen“, Link: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/ukraine-krieg-gedicht-eines-17-jaehrigen/
Schülerzeitung
Link zum Ukraine-Ordner: https://www.klausschenck.de/ks/veroeffentlichungen/ukraine-jugendliche-auf-der-flucht/index.html
Link zur Schülerartikel-Homepage: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/
Materialien für Schule und Deutsch-Abitur
Aktuell: „Psychologie-Tipps für die Schule“, neurologisch-psychologische Forschungsergebnisse in Blick auf Handys und soziale Medien: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/alle-vorsaetze-sind-fuer-den-arsch-wenn-man-sich-nicht-daran-haelt/
In einer Datei: alle Links zur Deutsch-Abi-Lektüre der letzten zwanzig Jahre bis heute und zu den wichtigsten Abi-Aufsatzarten (Stand 2018): https://www.klausschenck.de/ks/downloads/f32-05-anhang-literatur-neu-2023-11.pdf
Abi-Präsentationsprüfungen auf YouTube – alphabetisch nach Fächern geordnet plus eine Fülle an realisierten und ausgefallenen Präsentationsideen – erklärt und gezeigt an Referatsfotos: https://www.klausschenck.de/ks/praesentationen/abi-praesentationen/index.html
Allgemeine Abitur-Tipps: https://www.klausschenck.de/ks/deutsch/klassenarbeiten/geziele-abitur-hilfen-in-corona-einsamkeit/index.html
Artikel-Serie: „Die Stillen in der Schule“ – Schüchternheit/Introversion: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/die-stillen-in-der-schule-1-vom-glueck-der-introversion/
Artikel-Serie (22 Artikel): „Schülerzeitungsermutigung“ – Rückblick auf über zehn Jahre: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/redaktionsgroesse-zwei-pizza-regel/