Das „Dreimaitlihaus“ von der Sunnenrüti – ein reales Heidi-Glück

Es gab einmal ein „Dreimäderlhaus“…, klingt nach Franz Schubert, Wien, 19. Jahrhundert – aber unser „Dreimäderlhaus“ steht in der Sunnenrüti, also auf der Sonnenseite und liegt nur wenig niedriger als Litzirüti gegenüber auf der Schattenseite. Und es sind auch keine drei „Mäderl“, die aus dem Haus schauen, sondern drei „Maitli“ – vor ungefähr drei Jahrzehnten. Und die Parallelen zu Heidi und dem Geißenpeter sind fast unglaublich. Johanna Spyri (1827–1901) lässt ihre Heidi samt Peter und Alpöhi oberhalb von Maienfeld, das zu Landquart, also die Region um Chur, gehört, spielen, zu der natürlich auch das Schanfigg mit Arosa und seinen Teilgemeinden zählt. Aber unsere „Maitia“ (Schanfigger Dialekt) heißen Nina Hardegger, Eva Mattli und Dorothea Davidson, der Altersunterschied beträgt immer zwei Jahre. Die Mattli-Maitia wachsen also in der Sunnenrüti auf, dreißig Leute wohnen dort und leben noch heute fast ausschließlich von der Landwirtschaft. Und noch eine wichtige Information: Die Sunnenrüti liegt zwar an der Kantonsstraße nach Litzirüti/Arosa, aber der Zug tuckert auf der anderen Seite der Plessur unterhalb vorbei, unsere drei „Maitli“ sind also ab vom Schuss! Pech für die drei, besonders, als sie Jugendliche waren. In Arosa Rambazamba und gegen Mitternacht nach Hause kommen… – schlechte Karten! Es blieb nur das normale Taxi oder das Mama-Taxi: letzter Zug um Mitternacht, Abholen am Bahnhof Litzirüti oder Langwies. Aber lassen wir Nina und Dorothea jetzt doch selbst erzählen. Wir sitzen vor ihrem Holzhaus und es sprudelt eine unglaubliche Heidi-Kindheit aus ihnen, alles klingt nach einer lang vergangenen Zeit, aber so vergangen ist sie nicht, ich interviewe ja keine Großmütter, sondern junge Mütter zwischen 35 und 39 Jahren!

Aufgewachsen sind die drei Frauen in den 90er Jahren bei ihrer Mutter Dorothea Mattli, verwitwet, in der Sunnenrüti, einer Walsersiedlung aus dem 13./14. Jahrhundert, und als Walser sehen sich auch Nina und Dorothea noch heute, sie sind stolz auf ihre lange Familientradition, die drei haben einen berühmten Vater, den Eishockey-Nationalspieler Jöri Mattli. „Wir genossen es, ständig draußen zu spielen. Es war die Freiheit, weniger cool war jedoch, nicht mit anderen spielen zu können.“ Was jetzt folgte, war der Rückblick auf eine wunderbare Kindheit – Heidi like, aber Heidi real: „Wir sind in einer heilen Welt so behütet aufgewachsen, umgeben von guten Menschen. In der Schule in Langwies durften wir Kind sein, uns wurde die Kindheit nicht genommen. Es ging nicht um Schminken, Klamotten, irgendwelche Rollen. Wir wurden einfach so genommen, wie wir waren, ohne jeden Druck und gesellschaftlichen Zwang. Wir spielten das Kindsein mit LEGO und Barbie. Wir bauten Hütten, fuhren Velo und versteckten uns im Heuspeicher (Heuboden), was aber eigentlich verboten war. Und wenn es mal hart auf hart kam, schickten wir unsere Kleine vor – Dorothea. Als es in einen tiefen und steilen Abgrund zu blicken galt, banden wir ihr ein Seil um den Fuß, falls sie abstürzt, und wenn wir von der Mutter etwas wollten, wofür die Chancen schlecht standen, musste es die Kleine bei ihr richten.“ Dann landeten die beiden bei unserem Gespräch natürlich bei Heidi: „Wir liebten Rollenspiele: Sisi, für die Garderobe halfen alte Vorhänge, und dann natürlich Heidi, Peter und Klara. Wir tauschten ständig die Rollen, das sahen wir alles ziemlich locker. Und für Heidi musste natürlich immer ein „Röckli“ her, ansonsten räuberten wir in Trekking-Hosen rum. Wir spielten den Roman nach, und wenn wir vergessen hatten, wie es weiterging, erfanden wir neue Geschichten. Auch hatten wir ein Pony mit Fohlen, Enten, Hasen, Katzen, da musste nichts erfunden werden.“

Tief eingewurzelt hat sich in beiden Frauen ihre Kindersommer auf der Alm/Alp Medergen, konkret dort im Restaurant „Alpenrose“, wo ihre Mutter arbeitete und wo die Familie in der Alpsiedlung ein Haus hatte. Eine Information vorweg: Bis heute dürfen die dortigen Walserhäuser aus baurechtlichen Gründen weder Strom noch fließendes Wasser haben. Seit rund dreißig Jahren hat jedes Haus Solarzellen – für Licht, nichts anderes! Die jährlichen Sommerferien von acht bis neun Wochen verbrachten die Mattli-Maitia oben auf der Alm auf 2.000 m Höhe und verdienten sich ihr „Sackgeld“ (Taschengeld) beim Abwasch im Restaurant. Der Abwasch bedeutete aber zunächst, an den Brunnen zu gehen und das Wasser in die Küche zu schleppen, erst dann konnte mit dem Abwasch losgelegt werden. Eine andere Aufgabe war es, die leeren Flaschen vom Restaurant zu ordnen. Das Ziel war jedoch immer, sich hochzuarbeiten und irgendwann im erstreben Service zu landen. Die drei genossen noch etwas anderes ganz besonders: Endlich hatten sie Spielkameraden, andere Kinder, Restaurant-Leben mit Gästen, genau das war es, was sie – bei aller Wertschätzung für die Sunnenrüti – dort so vermissten.

Da die drei „Maitli“ geschäftstüchtig sind, überlegten sie sich, mit welchen Tricks das Taschengeld noch weiter aufgebessert werden könnte. Neue Masche: ein Kiosk direkt am Restaurant. Dort verkauften sie den Wanderern selbstgemachte Kräuterbutter, Brennnesseltee und Schnittlauch. Kräuterbutter auf einer Wanderung zu kaufen sei ja schon ein Witz, meinte Nina, aber insgesamt lief das Geschäft richtig gut und sicherlich machten die drei kleinen Schwestern auf die zahlreichen Wanderer einen herzigen Eindruck, wofür man dann auch eine geschmolzene Kräuterbutter in Kauf nahm.

Nina und Dorothea erzählten mit so leuchtenden Augen, mit so viel Begeisterung und Dankbarkeit über ihre Kindheit, die aus heutiger Sicht eigentlich alles hatte, um als langweilig, eingeschränkt und insgesamt eher hart charakterisiert zu werden. Aber es sind andere Werte, die für das Glück in der Kindheit stehen: behütet, von guten Menschen umgeben, frei spielen und seine Phantasie ausleben können und angenommen werden – ohne irgendwelchen Rollenzwang. Das Ja zu ihrer Kindheit spiegelt sich bei beiden Frauen im gemeinsamen Wohnen mit ihren Familien in einem Holzhaus wider und in der Weitergabe der selbst erlebten Glückswerte an die beiden Kinder Gion und Georg.

Artikel: Klaus Schenck

Kinderfotos: Dorothea Davidson, geb. Mattli

Auf den Spuren der drei Mattli-Maitia – mit Wanderschuhen und Kamera

In der Sunnenrüti

Mein erstes Ziel heißt: die Sunnenrüti. Die erreichte ich leicht mit dem Auto von Litzirüti aus. Und gleich mal einen Tipp für alle Touristen aus Richtung Langwies: Nach fünf bis sieben Minuten steigt die Kantonsstraße nicht mehr, Sie sehen rechts eine größere Parkmöglichkeit und links den Hofladen – dank Automaten 24 Stunden. Wer auf Fleisch- und Käsequalität Wert legt, ist hier an der richtigen Adresse!

Aber ich will ja das Kinderparadies der Mattli-Maitia kennen lernen. Die Häuser stehen weit auseinander, dank meiner Wanderschuhe habe ich keine Probleme mit den nassen Wiesen. Mein Ziel ist das Elternhaus der Mattli-Maitia, auf dem 4. Foto ist das Mattli-Elternhaus links unten, die letzten zwei Fotos sind dann das Elternhaus. Ich sage Mutter Mattli ein herzliches „Grüäzi“, dann geht es Richtung Medergen, der Alp/Alm auf 2.000 m, wo die Mattli-Maitia in allen Sommerferien waren und die Familie ein Wohnhaus hat. Zwei Stunden bergauf liegen vor mir.

Die Alp/Alm Medergen auf 2.000 Metern Höhe

Ich bin ungefähr zehn Minuten unterwegs, als ein Auto hält und eine Frau fragt, ob ich nicht mitfahren möchte, so bis zur Hälfte. Ich sitze hinten – neben dem Kindersitz, vorne auf dem Beifahrersitz ein Riesenkorb für die Pilze. Wir unterhalten uns, sie kennt die Mattli-Maitia und ich frage sie nach dem Vater der drei – nach Jöri Mattli, dem bekannten Eishockey-Nationalspieler. „Das war so schrecklich für die Familie! Er war ein großartiger Sportler. Von Beruf Schreiner arbeitete er nach seiner Sportkarriere als Landwirt. Er ging zu einer seiner Wiesen und kehrte nicht zurück, er starb mit 37 Jahren an einem Herzinfarkt. Da waren die Töchter noch ganz klein.“ Sie lässt mich ungefähr nach halbem Weg aussteigen – hier ist ihr Pilzreich. Es geht ungefähr noch eine Stunde recht hoch, dann sehe ich oberhalb der Wiesen die Holzhäuser von Medergen in der Sonne liegen – wie an einer Perlenkette aufgereiht. Und ich bin überwältigt, die Holzhäuser, die Bergwelt, die Stille, die Sonne – einfach umwerfend. Das letzte Foto ist die „Feuerwehr-Hütte“ mit Löschteich.

Die „Alpenrose“

Hier arbeiteten Mutter Mattli und ihre drei Töchter. Ich setze mich auf den Balkon, der fast das ganze Haus umrundet. Mit dem Schweizer am Nebentisch komme ich ins Gespräch, erzähle ihm, ich käme aus Tauberbischofsheim und will gerade erklären, wo das so ungefähr liegt, als er mich unterbricht: „Tauberbischofsheim, das kenne ich gut, da war ich gerade geschäftlich im Juli und übernachtete im ‚Badischen Hof‘.“ Ich bin platt, der „Badische Hof“ ist fünf Minuten von mir weg, wir unterhalten uns über die Wirtsfamilie Derr, über das Fechten und andere Lokale. Da ich ja wegen der Mattli-Maitia hier bin, frage ich den Wirt der „Alpenrose“, wo denn der Brunnen sei, aus dem die drei Maitli immer das Wasser für den Abwasch holten. Er zeigt ihn mir (letztes Foto: oberhalb des Brunnens ist die „Alpenrose“) und auch das Wohnhaus der Mattlis.

Das Wohnhaus der Mattlis

Dank des Wirtes muss ich nicht lange suchen, bin gleich da. Ich umrunde das Holzhaus fotografierend, es liegt am Ende der Straße – eher Weg, der Ausblick aus dem Haus muss überwältigend sein. Nebenbei, auf dem Rückweg werde ich wieder mitgenommen bis exakt zu der Stelle, an der mich die Pilzsammlerin am Morgen aussteigen ließ. Das sind die „Berg-Menschen“ der Schweiz!

Fotos: Klaus Schenck

Für alle Abiturienten, die Erpenbecks „Heimsuchung“ als Pflichtlektüre im Unterricht behandeln (Abitur 2026-28, deutschlandweit)

Wenn ihr den anspruchsvollen Roman von Erpenbeck im Unterricht durchnehmt, klärt zunächst, was „Heimat“ für euch bedeutet, und macht dies schriftlich. Das erleichtert euch den Zugang, ihr könnt euer Verständnis von Heimat mit dem der verschiedenen Personen im Roman vergleichen. Hier sind drei unterschiedliche Heimatbegriffe, drei unterschiedliche Formen gelebter Heimat – aus Deutschland und der Schweiz (Graubünden):

Ordner zu Erpenbeck „Heimsuchung“ mit allen Materialien, Manuskripten und Sendungen (vollständig ab November 2024) – kostenloser Crashkurs: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/jenny-erpenbeck-heimsuchung-kostenloser-deutsch-abi-crashkurs/

Arosa-Artikel – der neueste steht ganz oben

Bären-Artikel mit Fotos und Lieblingsfilm

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Klaus Schenck, OSR. a.D.
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Über den Autor

Klaus Schenck unterrichtete die Fächer "Deutsch", "Religion" und "Psychologie". Er hatte 2003/04 die Schülerzeitung "Financial T('a)ime" (FT) zunächst als Printausgabe ins Leben gerufen, dann 2008 die FT-Homepage, zwei Jahre später die FT-Sendungen auf YouTube (www.youtube.com/user/financialtaime) , zusätzlich ist noch seine Deutsch-Homepage (www.KlausSchenck.de) integriert, sodass dieses "Gesamtpaket" bis heute täglich auf rund 1.500 User kommt. Mit der "FT-Abi-Plattform" wurde ab 2014 das Profil für Oberstufen-Material - über die Schülerzeitung hinaus - geschärft, ab August 2016 ist wieder alles in einer Hand, wobei Klaus Schenck weiterhin die Gewichtung auf Schulmaterial beibehält und die Internet-Schülerzeitung (FT-Internet) bewusst auch für andere Interessierte öffnet.

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