Nach Vorfällen wie Winnenden, Erfurt oder zuletzt auch Ansbach stellt sich immer deutlicher die Frage nach dem Warum. Freunde, Familienmitglieder werden zu früh und zu grausam aus dem oft noch jungen Leben gerissen und für alle steht meist unmittelbar nach der Tat fest – die Schuld liegt allein beim Täter. Doch was bringt einen jungen Menschen dazu, bewaffnet in einen ihm bekannten Ort einzudringen und dort ein blutiges Massaker zu vollziehen?
Eine klare Antwort darauf ist wohl nicht zu finden. Doch bei fast allen Gewaltverbrechen wird ein Motiv stark betont – Rache. Täter fühlen sich meist selbst als Opfer, sehen ihre Tat als gerechtfertigt, als Ausweg aus einer Spirale von Demütigungen und Ausgrenzung – Mobbing erlangte in den letzten Jahren einen komplett neuen Stellenwert in Schulen und Berufen. Woher dieses Phänomen stammt, ist umstritten. Neid, steigender Konkurrenzdruck, ein unvollständiges Selbstbild, Angst vor Zurückweisung oder selbst in eine Opferposition zu gelangen, Kompensation von privaten Problemen können alles Faktoren sein, die gewöhnliche Menschen zu Tätern machen können.
Mobbing beginnt meist mit Kleinigkeiten, die man als Außenstehender kaum als demütigend erkennen würde: ein Witz auf Kosten eines Mitschülers kann bereits der Anfang sein. Was für den Täter womöglich nicht einmal als schlimm empfunden wird, kann für das Opfer erdrückende Folgen haben, es fühlt sich gedemütigt und vor anderen bloßgestellt.
Natürlich reagiert jeder Mensch anders auf solche Umstände. Gefestigte Personen können im Idealfall mitlachen oder den vermeintlichen Spaß nicht zu stark bewerten. Wer allerdings über einen längeren Zeitraum hinaus immer wieder in solche und ähnliche Situationen gebracht wird, sieht dies bald nicht mehr als Spaß. Oft rutschen in die Rolle des Opfers gerade die Menschen, die sich nicht zu wehren wissen, still zurückhaltend in sich gekehrt. Ein leichtes Opfer, von dem man keinen Widerstand zu erwarten hat. Nennenswert zur Entstehung von Mobbing ist auch, dass nichts mehr verbindet als ein gemeinsamer Feind. So kann es schnell und ohne tatsächlichen Grund geschehen, dass ein Schüler zum Außenseiter wird, und es für die Mitschüler bald als normal gilt, ihn zu belächeln oder Frust an ihm abzulassen. Sich über eine andere Person zu stellen, strahlt eine gewisse Macht aus; die Person fühlt sich überlegen und präsentiert dies, um an Anerkennung und Wertschätzung zu gewinnen. Auch Angst spielt hierbei eine große Rolle – wer Angst macht, muss keine Angst haben, denn niemand wird sich gegen jemanden wenden, der so stark auftritt. Niemand riskiert durch Kritik oder Unterstützung des Opfers selbst in diese Position zu gelangen. Im Laufe der Zeit ändert sich oft die Form, in der das Mobbing sich äußert. Meistens sind die Opfer seit vielen Jahren bereits in einer untergeordneten Position ihren Peinigern gegenüber. Sie haben keine Chance aus dieser Rolle auszubrechen. Das Selbstbewusstsein ist fast immer verkümmert, da die Demütigungen insbesondere im Pubertätsalter auftreten und starken Einfluss auf die Entwicklung eines jungen Menschen nehmen. Dieser wird immer unsicherer, hat Bindungsängste und Probleme, Vertrauen zu seinen Mitmenschen oder sogar zu seiner Familie zu entwickeln. Ein Blick, ein Lächeln, durch die immer wiederkehrenden Erniedrigungen werden auch alltägliche, normale Gesten zur Qual, da sie falsch interpretiert werden. Das Mobbing wird über die Zeit meist schlimmer und immer schwieriger zu unterbinden. Was mit „Witzen“ auf Kosten einer Person beginnt, führt bald zur Ausgrenzung dieser Person.
Die Menschen im Umfeld der jeweiligen Person verlieren mehr und mehr den Respekt und die Achtung, die Rolle des Außenseiters abzulegen wird bald unmöglich. Doch es bleibt meist nicht nur bei Demütigungen durch Sprüche etc.. Oftmals steigert sich der ‚Spaß‘ bis hin zum Klauen von persönlichem Gegenständen, die meist einen hohen Wert für denjenigen darstellen, um ihn gezielt zu verletzen oder in Verlegenheit zu bringen, dem Unkenntlichmachen von Arbeiten, wie Hausaufgaben oder Projekten, um die Person auch vor anderen Menschen in eine Problemsituation zu bringen oder sogar zu körperlichen Übergriffen wie Herumschubsen, Tritten oder sogar Schlägen.
Die Opfer sind ihrer Situation hilflos ausgeliefert. So schrieb das Göttinger Tagesblatt am 10.06.04 über den Fall des 17-jährigen Dieter-Dennis: „Sie stülpten ihm einen Plastikeimer über den Kopf und schlugen mit Schlagrohren darauf, sie zwangen ihn, Kreiden und Zigarettenkippen herunterzuwürgen. Aufnahmen dieser Misshandlungen stellten sie ins Internet. Das Opfer befindet sich immer noch in Therapie.“ In den letzten Jahren wurden durch den Aufschwung von Internetportalen wie „youtube“ oder verschiedenen „Schüler-Chatrooms“, Bilder oder Videos von Demütigungen der Betroffenen so weit verbreitet, bis schließlich oft die ganze Schule und auch Leute von außerhalb, die die Person nicht einmal kennen, Wind davon bekommen haben. Damit wird dem Opfer die Möglichkeit zu flüchten endgültig genommen. Gerade in ländlichen Gegenden, in denen jeder jeden kennt, hat man keine Chance sich einfach ein neues Umfeld zu schaffen. Doch die Verbreitung im Internet stellt noch ein weiteres Problem dar. Da der Zugriff auf solche Fotos oder Videos für alle möglich ist, werden auch potentielle Arbeitgeber darauf aufmerksam. Da die Bilder auch über Jahre hinweg noch im Internet auffindbar sind und man sich nie eines völligen Verschwindens sicher sein kann, halten diese möglicherweise Auswirkungen für das ganze weitere Leben bereit. Ganz zu schweigen von den psychischen Folgen – Depressionen und Angstzustände, ein mangelndes Selbstbewusstsein und Minderwertigkeitskomplexe sind Probleme, mit denen die Opfer langfristig zu kämpfen haben, selbst nachdem die Schikanen aufgehört und die Lebenssituation sich geändert haben sollte. Viele Menschen begeben sich auch Jahre danach noch in die Obhut eines Psychologen, um die Erlebnisse aufzuarbeiten. Ihr Sozialverhalten bleibt jedoch für üblich geprägt von Misstrauen und Ängsten. Auch in den Amoktaten von Winnenden und Erfurt war vermehrt von Mobbing die Rede. Zwar will im Nachhinein niemand etwas gesagt oder getan haben, doch sollte man nicht zu voreilig über „Täter“ bzw. „Opfer“ urteilen, denn diese Positionen sind nicht aus jedem Blickwinkel klar definiert.
Artikel: Carolin Kaiser und Katja Beck
Materialien für Lehrer und Schüler
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