Die Rechtschreibkatastrophe

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Neben mir auf der Bank vor dem Schwimmbadbecken sitzt ein älterer Herr, in der Hand eine Ausgabe „Der Spiegel“. Murmelnd blättert er von Seite zu Seite. „Eine Frechheit … unglaublich … eine Katastrophe“. Als er das Heft zuschlägt wendet er sich mir zu, fragt, ob ich dieses neue unverantwortliche Rechtschreibsystem kenne, welches für ihn so unvorstellbar sei. Bei dem von Jürgen Reichen propagierte System „Lesen durch Schreiben“ handelt es sich um eine mir wahrlich bekannte Methode.

Ich kann ihn beruhigen, schließlich habe ich in der Grundschule noch normal schreiben gelernt, aber was war dieses „normal“? Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich an massenweise schlechte Deutschnoten und falsche Wörter in Aufsätzen, Diktaten, die alle zehnmal korrekt geschrieben werden mussten.  „Ihre Tochter braucht zusätzliche Förderung“, so hieß es bei den Elternabenden zu meiner Mutter. Weil man wusste, dass nur Übung mich noch zum Erfolg bringen könnte, schickte mein Lehrer in den ersten Schuljahren häufig zusätzlich Lernkärtchen mit nach Hause, die meine Mutter mit mir üben sollte. Nun, zehn Schuljahre später, blicke ich zurück und danke den Lehrer, die bereit waren meine Probleme ernst zu nehmen.

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In der gleichen Grundschule erklärt man wenige Jahre später den Eltern, dass Fehler okay seien, sie diese nicht verbessern sollten und die Kinder von selbst zur richtigen Rechtschreibung finden werden. Es stellt sich mir die Frage, wo ich heute wäre, wenn man mir nie gesagt hätte, dass „Weihnachten“ weder etwas mit Wein noch mit Weinen zu tun hat, „Ofen“ eine andere Bedeutung als „offen“ hat.

Trotz meiner jungen Jahren, und ich will behaupten relativ offen für Neues zu sein, fällt es mir schwer zu verstehen, wie dieses chaotische System genau ablaufen soll. So kann ich den Mann ein zweites Mal beruhigen, sein Unverständnis liege nicht an seinem Alter, auch für mich ist es kaum vorstellbar und deswegen lasse ich es mir schriftlich von einer Betroffenen erklären:

„Wir haben gesagt bekommen was wir schreiben solen und dan haben die uns gesagt dass wir schreiben solen wie wir es hören. Z.B. mit „nä(h)mlich“ da hört mein ein h also schreibt man es auch. Also die haben das dan verbesert und ein X gemacht in die Zeile mit dem valschen Wort aber nie gesagt was valsch ist und wie es richtig ist.“

Nur dank dem Spruch „Wer nämlich schreibt mit ‚h‘, ist dämlich“, also einer klaren Regel, wisse sie heute, wie man dies richtig schreibt. Ich erzählte, wie ich schreiben gelernt habe: Unter klaren Regeln, festgehalten auf Lernkarten, ständigen Kontrollen, Verbesserungen und dem sturen Lernen durch Wiederholung.

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„Wir hatten auch Lehrnkärtschen aber wir haben die Worte gesagt bekommen und dan selbst geschrieben. Dan ham wir die Abgegeben zum kontrollieren lassen und der Lehrer hat das durchgeguckt und danach gesagt welches Kärtschen valsch ist aber nich gesagt wie es richtig ist. Das müsen wir selbst rausfinden und dan haben wir es auch im Diktat valsch geschrieben“

Die Grundsätze der Reichen-Idee beruht darauf, dass Fehler erlaubt sind, Kinder die Sprache sich selbst erarbeiten, wie sie auch von selbst beginnen zu laufen. Es heißt, der Zwang zum Lernen müsse endlich abgeschafft werden, die Kinder dürften nicht weiter unterdrückt werden. Reichen wolle ihnen wieder eine Stimme geben.

Anhand einer Anlauttabelle, in der jeder Buchstabe einem Bild zugehört, sollen sich die Kinder ihre Wörter nach Gehör und Gefühl selbst zusammenbauen. Buchstaben dienen wie Bauklötze zu Erschaffung komplexer Gebilde. Korrektur sei verboten, denn durch diese würden unsere Kinder in ihrer Freiheit und Kreativität eingeschränkt.

Nur leider vergisst Reichen, dass kein Jung-Architekt, sei er noch so frei und kreativ, Erfolg hat, wenn seine Gebäude zu nichts taugen.

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Die Probleme der Kinder, die durch das System dazu verdammt sind sich zu Rechtschreibanarchisten zu entwickeln, beschränken sich nicht auf das Fach Deutsch. So scheitern Mathegenies an Sachaufgaben, deren Texte sie nicht verstehen. Richtig problematisch wird es allerdings erst beim Übergang in die weiterführenden Schulen, wo die Beherrschung der Rechtschreibung oft vorausgesetzt wird. In G8-Zeiten hat ein Gymnasium schlichtweg nicht die Zeit noch groß Rechtschreib-Defizite auszugleichen. Wer nicht schreiben und lesen kann, hat dort nichts zu suchen, egal, wie intelligent er ist. Ein späterer Aufstieg ist nur möglich, wenn man sich auf mühsames Umlernen einlässt, welches eigentlich nicht nötig gewesen wäre, wenn die Schulen richtige Arbeit geleistet hätten.

Nach Jahren, in denen sich  die Katastrophe über ganz Deutschland ausbreiten  konnte, wird nun langsam Kritik laut. Entsetzte Eltern und Politiker werfen den Pädagogen sogar unterlassene Hilfeleistung vor, Lebenschancen würden verbaut werden. Neben dem Legasthenie-Experten Gerd Schulte-Körne, welcher ein Zurück zu den alten Methoden fordert und an die Wirkung des altbewährten Übens glaubt, wünscht sich Renate Valtin, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben, sogar ein Verbot der Reichen-Methoden. Diese Kritik basiert nicht nur auf einem Blick in deutsche Klassenzimmer, sondern auch auf den eindeutigen Ergebnissen von Studien wie BeLesen, IGLU und der Marbürger Studie. Von Seiten der Reichen-Anhänger schenkt man diesen Studien allerdings keinerlei Bedeutung und die Reichen-Kritiker sind es leid noch mehr Kinder in ihr Unglück zu stürzen, nur um zu beweisen, was längst schon offensichtlich ist, wenn man es nur sehen will. In Anbetracht der Tatsache, dass die Menschheit Jahrtausende gebraucht hat unser Rechtschreibsystem zu entwickeln, müssen wir uns heute überlegen, ob es wirklich verantwortbar ist zu verlangen, dass ein Kind sich die jahrtausendlange Entwicklung – in nur vier Jahren und völlig auf sich allein gestellt – aneignet.

Wer jedoch bereit ist den Methoden eine Chance zu geben, sollte sich zuerst auf die Suche nach einer wissenschaftlichen Basis begeben. Er wir eine lange, aussichtslose Reise vor sich haben. Die Rechtschreibkatastrophe fand Einkehr in Deutschland, und zwar ohne jegliche Vorprüfung, einfach akzeptiert als nette Idee und all das auf Kosten unschuldiger, wehrloser Schüler, die als Versuchskaninchen missbraucht werden.

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Reichens bereits genannter Plan, den Kindern wieder zur eigenen Stimme zu behelfen, ist gescheitert. Heute streiten sich Gruppen, die nicht persönlich betroffen sind, um die Zukunft des Deutschunterrichts, während Kinder keine Lust mehr haben zu lesen und Jugendliche auf der Suche nach einer „Leerstelle“ scheitern.

 

Artikelquelle:

Von Bredow, Rafaela & Hackenbroch, Veronika: Die neue Schlechtschreibung. In: „Der Spiegel“ Nr. 25/17.6.13 S. 96 – 104

Interview mit einer Schülerin der 6. Klasse

 

Bilderquellen:

„Der Spiegel“ Nr. 25/17.6.13

http://www.rechtschreibwerkstatt.de/ (07.09.2013)

http://www.welt.de/politik/deutschland/article13649071/Wenn-in-der-Schule-Falsches-richtig-ist.html (07.09.2013)

 

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