„Die Sonne sank, bevor es Abend wurde“ – Der Amoklauf von Winnenden

Diese Zeilen stammen aus der Todesanzeige der Familie der am 11.März 2009 verstorbenen Nicole. Die Schülerin der Albertville-Realschule in Winnenden starb mit gerade einmal 16 Jahren. Sie verblutete vor den Augen ihrer Mitschüler, nachdem der Amokläufer Tim K. gegen 9.30 Uhr das Klassenzimmer der 10d stürmte, um dort Nicole und fünf andere Schüler zu erschießen. Acht Schülerinnen, drei Lehrerinnen und einen Schüler erschoss der 17-jährige Tim K. in wenigen Minuten. Junge Menschen, die er teilweise nicht einmal persönlich kannte. Zehn Minuten, nachdem der erste Schuss fällt, ist die Polizei vor Ort, doch Tim K. ist bereits auf der Flucht, auf der er zunächst einen Passanten in der Winnendener Innenstadt erschießt. Daraufhin stoppt er einen Wagen, kidnappt den Fahrer und zwingt diesen, ihn in das 40 Kilometer entfernte Wendlingen zu fahren. Um 12 Uhr lässt er seine Geisel (lebend) zurück und dringt in ein Autohaus ein, in dem er zwei Angestellte erschießt. Als er das Autohaus verlässt, eröffnet Tim K. das Feuer auf die ihn umzingelnden Polizisten und verletzt dabei zwei der Beamten schwer. Als er selbst von einer Kugel ins Bein getroffen wird, begeht er vor den Augen der Polizei Selbstmord durch einen Kopfschuss. Insgesamt 16 Menschen sterben an diesem Tag – 15 unschuldige Opfer, und der Täter selbst. Nach der Tat breitet sich ein Gefühl der Kälte und Ratlosigkeit in Winnenden aus. Familien betrauern den Tod ihrer Kinder und Geschwister, ihrer Freunde und Mitschüler. Jeder fragt nach dem Warum, eine klare Antwort wird es darauf wohl nie geben. Auf dem Rechner des 17-jährigen Tim Ks werden verschiedene brutale Computerspiele, wie Counterstrike und Far Cry, sichergestellt, die er noch am Abend vor der Tat mehrere Stunden lang spielte, außerdem eine Unzahl von Gewaltpornos. Unter dem Pseudonym “JawsPredator1“ (deutsch etwa: ‚Die Klauen des Feindes‘) meldete er sich einige Monate vor der Tat, im August 2008, zum Thema „Amok“ in einem Forum selbst zu Wort. „Das witzige ist ja, selbst wenn diejenigen es ankündigen, glaubt es ihnen niemand.“ Es stellt sich also die Frage: Wäre die Tat zu verhindern gewesen?

Ein Meer aus Kerzen und Briefen für die Opfer auf den Treppenstufen der Albertville-Realschule in Winnenden.

Ein weiterer Streitpunkt entstand durch den Vater des Täters ins Leben gerufen, der berichtete, seinen Sohn mehrere Male in einem Schützenverein mitgenommen zu haben, da der Junge darauf drängte, den Umgang mit Waffen zu erlernen. Bis heute wird gegen den Vater ermittelt, da es seine Waffen waren, mit denen Tim K. 15 Morde und seinen Selbstmord beging. Seit April 2009 wurden als Reaktion auf den Amoklauf in ganz Baden-Württemberg 45.000 Schusswaffen aller Art auf freiwilliger Ebene beim Landtag abgegeben und daraufhin vernichtet, als eine Art Mahnmal für die Opfer des 11. März. Doch die Schuldzuweisungen richten sich nicht ausschließlich an den Täter, seine Hobbys und seine Familie selbst. Vermehrt treten Stimmen auf, die auch in den Opfern vermeintliche Täter sehen. Von Mobbing ist die Rede, Tim wurde angeblich diskriminiert und isoliert. Jedoch spricht dagegen, dass selbst bis heute nicht sicher geklärt ist, ob Tim K. seine Opfer überhaupt persönlich kannte. Zwar sprechen einige Indizien, wie beispielsweise der gezielte Einsatz von Kopfschüssen oder die dreifache Rückkehr in das Klassenzimmer der 10d, für gezielt ausgewählte Opfer, auf der anderen Seite aber war der Klassenraum, in den er mehrfach eindrang und in dem er insgesamt 6 jungen Menschen das Leben nahm, sein ehemaliges Klassenzimmer. Ob es einen Zusammenhang gibt, ob er hier Demütigungen erfahren hat, und sich rächen wollte, bleibt ebenfalls ungeklärt. Es stehen viele offene Fragen im Raum, auch jetzt, 2 Jahre später, hat sich daran nichts geändert. Doch die Menschen in Winnenden wollen etwas ändern. Die Tode ihrer Mitmenschen sollen nicht vollkommen sinnlos gewesen sein. Es soll sich etwas bewegen, nie wieder sollen Menschen vor dem Verlust ihres Kindes oder Freundes durch einen Amoklauf stehen müssen. Die Opfer des 11.März werden in Ehren gehalten und bleiben unvergessen. Unzählige Videos und Bilder der Verstorbenen finden sich im Internet, Freunde und Familienangehörige setzten ihnen ein Denkmal. Nicole wäre am 12.08.09 17 Jahre alt geworden, eine Freundin lud an diesem Tag ein Video mit Bilder und Geburtstagsgrüßen an „ihren Engel, der leider nicht mehr mit uns feiern kann, aber dem es hoffentlich gut geht, wo immer sie jetzt ist“ auf der Internetseite Youtube hoch. Auch Marc S., der feste Freund Nicoles, wollte seinen Gefühlen Ausdruck verleihen und sie mit seinen Mitmenschen teilen, er verarbeitete den Tod seiner Freundin in einem selbstgeschriebenen Rap, den er mit einem Freund im Tonstudio aufnahm und über Radiostationen und das Internet publik machte. Nun werden CDs des Liedes „Die letzte Träne (für Nicole)“ verkauft, der Erwerb geht an das von Eltern der Opfer gegründete AAW, das „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden“, das sich durch verschiedene Maßnahmen für die Verhinderung von Gewalttaten einsetzt. Im letzten Jahr starteten sie beispielsweise eine Container-Aktion in Stuttgart, bei der dazu aufgerufen wurde, Killerspiele in einem riesigen Container, der vor der Stuttgarter Oper platziert wurde, zu entsorgen.

Eine weitere finanzielle Stütze des Bündnisses bildet die Aktion ‚ …die Liebe bleibt‘ – ebenfalls ein musikalischer Beitrag regionaler Künstler aus Winnenden, und auch einiger populären Musikgrößen wie beispielsweise Xavier Naidoo. Gemeinsam nahmen sie ein Album mit Liedern zu Trauer und Hoffnung, Liebe und Verlust auf und verzichteten dabei vollständig auf finanzielle Belohnung, die Einnahmen des Verkaufs werden ebenfalls an den AAW gespendet. Bislang wurden über 30.000€ durch den Verkauf der CD eingenommen. Vor wenigen Tagen jährte sich die schreckliche Tat. Zwar sind die Tränen getrocknet und der Alltag ist zurück gekehrt, doch werden die Lücken, die der 11.März 2008 ins Leben so vieler Menschen riss, nie gefüllt werden können.

Artikel: Carolin Kaiser

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