Doppelabitur – Die soziale Komponente

In den Sommerferien ist Helena 15 geworden. Gefeiert hat sie auch, die letzte große Party bevor der ,Ernst des Lebens‘ in die letzte, wirklich ernste Runde geht: Das Abitur. Helena ist wie knapp 97 000 andere Schüler in Baden-Württemberg im ersten G8 Jahrgang, der erste Jahrgang, der nur acht, anstatt wie bisher neun Jahre bis zum Schulabschluss brauchen soll. Der ,Versuchskaninchenjahrgang‘, wenn man so will. Und bleibt man mal im metaphorischen Tierreich, dann gehöre ich sozusagen zu einer aussterbenden Rasse, zum Jahrgang der ,alten Hasen‘ – der letzte Jahrgang G9, also mit neun Jahren bis zum Abitur. Irgendwie war uns allen klar, dass unser Abi anders sein wird als die bisherigen. Und während Politiker diskutieren, Lehrer an neuen Stundenplänen verzweifeln und in Norddeutschland Schüler auf die Straßen gehen, um gegen das umstrittene neue Projekt zu protestieren, hat sie sich ganz leise angeschlichen: Die Kursstufe G8 und G9, der Doppeljahrgang. Plötzlich sind wir alle ein Jahrgang, eine Gemeinschaft. Wir teilen Klassenzimmer und Oberstufenräume, Klausurstress und Zukunftspläne. Doch womit zunächst keiner gerechnet hat, ist inzwischen ebenso unauffällig passiert: Zwischen den ,Kleinen‘ und uns G9ern haben sich schnell viele neue Freundschaften gebildet. Ähnliche Hobbys, derselbe Fußballverein, dieselbe Lieblingsband: Schnell fanden sich viele Gemeinsamkeiten. Noch vor wenigen Monaten waren wir alle – alte Hasen sowie die Kaninchen – fest davon überzeugt, dass das nie klappen könnte. „Ich hab keinen Bock auf die Kleinen. Voll der Kindergarten!“ – der wohl am häufigsten gesagte Satz des letzten Schuljahres. Bei den G8er sah das offenbar nicht anders aus, niemand hatte allzu große Lust in einer Stufe zu sein mit Leuten, die teilweise 3 Jahre älter sind. Doch die letzten Wochen haben deutlich gezeigt, Freundschaft ist keine Frage des Alters. Neben der neuen Situation mit Wahlkursen war es beinah das Aufregendste, neue Leute kennenzulernen. Sicherlich kam nicht jeder gleich gut mit jedem klar – aber das war im eigenen Jahrgang nichts anderes. Cliquen gab es schon immer, und Menschen, denen man mehr oder weniger viel zu sagen hatte. Und doch war es erstaunlich, wie schnell sich die Leute zusammenfanden, die auf einer Wellenlänge sind. Plötzlich hat sich die facebook-Freundesliste verdoppelt, am Wochenende trifft man sich in großer Runde. Der Altersunterschied fällt heute niemandem mehr auf, die Grenzen zwischen G8 und G9 verschwimmen immer mehr.

Doch nicht alles läuft so glatt ab wie neue Freundschaften zu knüpfen. Manchmal spielt das Alter eine weitaus entscheidendere Rolle als augenscheinlich zu vermuten. Sprechen wir beispielsweise in der Pausenhalle von unseren Plänen für die Zeit nach dem Abitur, zeichnet sich wiederum deutlich ab, wer ehemals in welcher Jahrgangsstufe war. Kaum ein G8er hat auch nur eine vage Idee, welche Fachrichtung er in etwas mehr als einem Jahr studieren soll. Wenn ich zurückdenke, wundert mich das nicht. Als ich 15 war, war Studieren und Ausziehen noch so weit weg, noch so unrealistisch, dass sich die meisten Schüler noch keine allzu ernsten Gedanken darum machen mussten. Inzwischen ist das selbstverständlich ganz anders, wenn auch nicht alle, dann wissen doch zumindest die Mehrzahl der ehemaligen G9er schon ziemlich genau, was nach dem Abschluss geschehen soll. Denke ich zurück an die Pläne und Wünsche, die ich mit 15 hatte, hat sich seitdem auch einiges verändert. Doch seitdem sind mittlerweile auch knapp drei Jahre vergangen.

Weitreichende zukunftsrelevante Entscheidungen müssen nun schon bald getroffen werden, und mir persönlich erscheinen die wenigsten Schüler gut darauf vorbereitet. Die Schule ihrerseits gibt sich zwar Mühe, ihre Schützlinge gut auf die bevorstehenden Entscheidungen vorzubereiten: Anmeldebögen zur Studienberatung an verschiedenen Stellen wurden verteilt, es gab in diesem wie auch schon im Vorjahr Vorträge und Veranstaltungen, die die Wahl für das, was nach dem Abitur geschehen soll, vereinfachen soll. Dennoch wirkt die große Menge an Möglichkeiten und vermeintlichen Chancen auch bedrohlich. Immer wieder wird betont, wie wichtig und entscheidend die Wahl des richtigen Studienfachs, eines zeitlich sinnvollen Auslandaufenthalts oder vieler weitreichender Praktika ist. Schüler sollen nach dem Abitur idealerweise genau wissen, welches Ziel sie in den nächsten zehn Jahren verfolgen möchten, beruflich und auch privat. Auch für vermeintlich ,erwachsene‘ Abiturienten, die noch 13 Jahre die Schulbank drückten und immerhin einige Monate mehr Lebenserfahrung mit sich bringen, ist diese Festlegung keine einfache. Doch insbesondere auf den Mitschülern, die selbst im ehemaligen G8 noch zu den jüngeren gehörten, lastet jetzt ein immenser Entscheidungsdruck. In einem Alter, in dem man – zumindest offiziell – noch nicht einmal nach 22 Uhr ins Kino darf, soll entschieden werden, was mitunter Auswirkungen auf den gesamten Rest des Lebens hat. Aktuell bricht jeder vierte Student sein Studium ab. Diese Zahl steigt womöglich noch drastischer an, wenn übereilte Entscheidungen bei der Wahl des Faches getroffen werden. Ein abgebrochenes Studium kostet den Betroffenen nicht nur Zeit, sondern vor allem jede Menge Geld. Zudem wird das, was jemand nach dem Abitur machen möchte, nicht nur durch individuelle Wünsche beeinflusst. Auch die rechtliche Komponente spielt eine entscheidende Rolle bei der Zukunftsplanung.

Helena wird zu ihrem Schulabschluss gerade 17 geworden sein. Damit dürfte sie weder alleine Auto fahren oder wohnen noch wichtige Verträge, wie etwa einen Miet- oder Kaufvertrag, unterschreiben. Für die meisten Praktika oder Auslandsaufenthalte muss man ebenfalls volljährig sein. Genau genommen dürfen Jugendliche in diesem Alter nicht einmal nach Mitternacht außerhalb des Hauses sein, es sei denn in Begleitung eines Erziehungsberechtigten. Für Familien, die in unmittelbarer Nähe einer Universität oder Hochschule leben, ist dieser Umstand nicht allzu problematisch. Für jene jedoch, die aus ihrem zu Hause aus- und in eine neue Stadt ziehen müssen, sind solche Fragen strittig. Darüber hinaus brisant ist auch die emotionale Reife: Ist man mit 17 schon bereit, selbstständig und von den Eltern getrennt zu leben? Dass man aus dem gewohnten sozialen Umfeld gezogen wird und möglicherweise viel Altbekanntes am neuen Leben zerbricht, ist für viele Abiturienten und Studenten ein Problem, mit dem sie erst umzugehen lernen müssen. Und das ganz unabhängig vom Alter. Alles in allem ist die Kursstufe und das Abitur eine aufregende Zeit. Große Entscheidungen und die damit einhergehenden Veränderungen schüchtern alle ein, egal, ob ,erwachsen‘ oder noch ein ,Kind‘. Trotzdem sollte man dabei nicht vergessen, die Zeit zu genießen. Denn im Grunde ist die Schule doch erst der Anfang.

Artikel: Carolin Kaiser

 

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