„Es wird nicht nach Fähigkeiten aussortiert, sondern nach Ständen und Geldbeutel“

Der Bestsellerautor Thomas Wieczorek über unser Bildungssystem, die Politik und Castingshows.

Thomas Wieczorek, 1953 in Berlin geboren, studierte nach seinem Abitur Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin und arbeitete anschließend bis 1979 als Redakteur für Politik bei der dpa. Im weiteren Verlauf seines Lebens war er sowohl Büroleiter bei der internationalen Nachrichtenagentur Reuters als auch in den Jahren 1981 bis 1983 Chefreporter bei BILD in Hamburg. Seit 1983 ist er als freier Journalist und Buchautor tätig. Im Jahr 2003 promovierte er zudem am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin mit „summa cum laude“ zum Thema „Die Normalität der politischen Korruption. Das Beispiel Leuna/Minol“.

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Seine Bücher tragen Namen wie „Die verblödete Republik“, „101 Gründe nicht zu wählen“ und „Die geplünderte Republik“. In seinen Büchern entlarvt er unter anderem die Inkompetenz unserer Volksvertreter und deckt einen Missstand nach dem anderen auf. Egal, ob Lobbyist, korrupter Minister oder öffentlich-rechtlicher Fernsehsender, keiner kommt in den Büchern von Herrn Wieczorek ungeschoren davon. Vor allem aber zeigt er, wie sehr Schulen, Universitäten, die Medien und die Politik an der Verdummung der Bevölkerung beteiligt sind. Durch viel Witz und Ironie wirken die Bücher jedoch nicht nur schockierend, sondern auch stets unterhaltsam. So verwundert es nicht, dass die Bücher von Thomas Wieczorek nicht selten in den Bestsellerlisten zu finden sind.

Quellen Informationstext: Wikimedia Foundation Inc.: „Thomas Wieczorek“ [Stand 29.10.2010].
Amazon EU S.a.r.l. : „Kundenrezesionen“ [Stand 29.10.2010].

FT: Sie sind ein sehr kritischer Mensch, der nicht ungern meckert. Wie sind Sie zu so einem kritischen Menschen geworden? Gab es ausschlaggebende Punkte in ihrem Leben, die Sie dazu gebracht haben über Missstände in Politik und Wirtschaft zu schreiben?

Thomas Wieczorek: Wer wie ich im Jahr 1968 gerade 16 war, wurde – so oder so – zwangsläufig politisiert. Wichtig war für mich als Schüler einer katholischen Privatschule der eklatante Unterschied zwischen der Amtskirche und den Aussagen des überlieferten Christus (ob es ihn wirklich gab, ist in diesem Zusammenhang völlig wurscht), etwa in der Bergpredigt. Nicht zufällig wurde der frühere Arbeitsminister und Bergpredigt-Fan Norbert Blüm von Franz Josef Strauß als „Herz-Jesu-Marxist“ beschimpft.

FT: Gleich auf der ersten Seite Ihres Buches „Die verblödete Republik“ steht ein Zitat von Albert Einstein: „Zwei Dinge sind unendlich: das Universum und die menschliche Dummheit. Aber beim Universum bin ich mir nicht ganz sicher.“ Das klingt nicht gerade positiv für die Menschheit. Was denken Sie ist größer: das Universum oder die menschliche Dummheit?

Thomas Wieczorek: Keine Ahnung. Aber das Wort „verblödet“ deutet ja schon an, dass es sich nicht um genetische Defekte, sondern um bewusste Verblödung durch interessierte Kreise handelt. Stellen Sie sich nur einmal vor, der Schulunterricht hätte die Qualität, dass der Normalschüler einen halbwegs guten Durchblick durch die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge bekommen würde und er zum Beispiel die Bundestagsparteien als eine Ansammlung fachlich und moralisch völlig inkompetenter Karrieristen entlarven könnte, Ausnahmen gibt es natürlich in allen Parteien!

FT: Es wird zur Zeit viel über das Bahnprojekt Stuttgart 21 berichtet. Die zuständigen Politiker behaupten, alles sei ordnungsgemäß abgelaufen. Sieht so gelebte Demokratie aus oder handelt es sich um reinen Lobbyismus?

Thomas Wieczorek: Mal ehrlich: Wenn das gelebte Demokratie sein soll, dann möchte ich nicht die ungelebte Demokratie sehen. Auch hier kommen die Bürger erst allmählich dahinter, dass Stuttgart 21 der üblichen Arbeitsteilung folgt: Die Bürger zahlen, und einige wenige verdienen sich dumm und dämlich. Stuttgart 21 ist ein Lehrbuchbeispiel von Lobbyismus.

FT: Herr Wieczorek, vor kurzem fand eine sehr lebhafte Debatte über Thilo Sarrazins Buch statt. Denken Sie, der Zeitpunkt und die extreme Fokussierung war Kalkül, um vor wichtigen Themen abzulenken?

Thomas Wieczorek: Sie sagen es! Da hat man dem Bürger ein Stöckchen hingeworfen, und schon vergisst er zentrale Themen wie Arbeitslosigkeit (darunter zähle ich auch die, die ihren Lohn durch Hartz IV aufstocken müssen), das Arm-Reich-Gefälle, die Bildungspolitik, die AKW-Gefahr und die Umweltzerstörung. Aber gerade der Protest gegen Stuttgart 21 zeigt ja, dass zum Verblöden immer zwei gehören – und die Schwaben lassen sich hier eben nicht für dumm verkaufen – und zwar quer durch alle Gesellschaftsschichten und Altersgruppen.

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FT: Sie kritisieren das niedrige Niveau von fast allen Fernsehsendern. Schauen Sie überhaupt selbst noch Fernsehen?

Thomas Wieczorek: Alle Sendungen, über die ich geschrieben habe, musste ich mir natürlich einige Male ansehen – ich mag es nicht, sich über Dinge zu äußern, die man bestenfalls vom Hörensagen kennt.

FT: Castingshows erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Bohlen’s „Supertalent“ erreichte kürzlich erst (trotz „Wetten dass…“) eine Quote von 24,2 Prozent. Welches Problem sehen Sie darin, wenn sich immer mehr Menschen solche Castings im TV ansehen?

Thomas Wieczorek: Zum einen wird hier spielerisch die raubtierkapitalistische Grundhaltung eingeübt: „Entweder die oder ich“ und „The winner takes it all“. Eine Model-Kandidatin wurde sogar kritisiert, weil sie einer anderen geholfen hatte. In einer Gesellschaft, in der jemand, der einer alten Frau die Handtasche wegreißt, als „clever“ gilt und der, der ihr über die Straße hilft, als „schön blöd“ bezeichnet wird, möchte ich nicht leben.

FT: Sie behaupten unser dreigliedriges Schulsystem sei ein Erbe der Ständegesellschaft.

Thomas Wieczorek: Es ist laut einem Bericht der UN-Menschenrechtskommission erwiesen, dass in Deutschland ein unterdurchschnittlich begabter deutscher Chefarztsohn zehnmal eher im Gymnasium landet als die viel begabtere Tochter einer türkischen Putzfrau.Kurzum: Es wird nicht nach Fähigkeiten aussortiert, sondern nach Ständen und Geldbeutel. Im übrigen können sich die erfolgreichen Bildungsländer, wie zum Beispiel Finnland, über unsere Vorauswahl nur totlachen. Zudem macht es mich wütend , dass es keinesfalls ehrliche und besorgte Menschen sind, die sich um unser Bildungssystem kümmern, sondern zumeist jenes raffgierige Gesindel, das sein Geld nicht durch Arbeit verdient, sondern durch Kapitalbesitz und den Dividenden daraus: 5 Prozent von 10 Millionen sind 500.000 Euro jährlich ohne einen Handschlag.

FT: In einem Ihrer Bücher schreiben Sie, dass naturwissenschaftliche Kenntnisse weniger zu Bildung gehören als Geisteswissenschaften.

Thomas Wieczorek: Es kommt natürlich darauf an, wie und mit welchem Ziel man sich Naturwissenschaften aneignet. Der KZ-Arzt Josef Mengele oder der Nazi-Waffenerfinder Wernher von Braun, der später durch den Bau der Atombombe für die USA Hiroshima erst möglich machte, waren sicherlich „brillante Naturwissenschaftlicher“, vielleicht gilt das sogar für die KZ-Konstrukteure. Die Überbetonung der „wertfreien Naturwissenschaft“ und die Abwertung der Geisteswissenschaften hat vor allem das Ziel, an den Universitäten unkritische und unpolitische Fachidioten zu produzieren, denen es auch heute wurscht wäre, ob sie für einen neuen Hitler oder für das „Wohl der Menschheit“ arbeiten.

FT: Unsere Verfassung legt Sozialstaatlichkeit zugrunde. Wie denken Sie sieht die Zukunft des Sozialstaates aus, wenn weiterhin Lobbyisten und unfähige Politiker unser Land regieren?

Thomas Wieczorek: Das hängt davon ab, wie viel die Bevölkerung sich bieten lässt – und glaubt man seriösen Zeitungen, dann entwickeln wir uns mehr und mehr zu einer Protestrepublik. Selbst aus den Reihen von Union und SPD hört man bereits Warnungen vor „sozialen Unruhen“. Das Beispiel DDR hat schon immer gezeigt, dass selbst intimste Kenner der politischen Szene derartige Wendungen nicht vorhersehen können.

FT: Mit Ihren Büchern dürften Sie sehr unbeliebt bei nicht wenigen Politikern sein. Gehört es zu ihrem Alltag, dass Sie Mahnungen oder sogar Drohungen erhalten und eingeschüchtert werden?

Thomas Wieczorek: Momentan fühle ich mich nicht bedroht – und Pressesprecher von SPD oder CDU wollte ich ohnehin nie werden.

FT: Man hört in den Medien immer weniger von Schmiergeldaffären. Ist die Korruption Ihrer Meinung nach in den letzten Jahren zurückgegangen oder wird sie nur auf eine andere Weise praktiziert?

Thomas Wieczorek: Nur ein Beispiel. Sie entscheiden über einen halbseidenen Rüstungsexport. Natürlich würde der Exporteur Ihnen nie Geld anbieten und Sie es auch nicht annehmen. Und, dass nach Genehmigung des Auftrags Ihr Sohn plötzlich seinen Traumjob im Sillicon Valley erhält und ein Unbekannter ein scheußliches Bild Ihrer Tochter, Anfangsgebot 50 Euro, für 100 000 Euro ersteigert, hat mit ihrer Entscheidung natürlich nichts zu tun. Sehr beliebt sind neben überhöhten Vortragshonoraren (das Zehnfache des Üblichen) vor allem der Kauf von Scheingutachten eines Verwandten oder Strohmanns.

FT: 2003 promovierten Sie zum Thema „Die Normalität der politischen Korruption. Das Beispiel Leuna/Minol“. Korruption zählt Ihrer Auffassung nach neben Dilettantismus immer noch zum Alltag in der Politik und scheint der Krebs der Demokratie zu sein. Was, denken Sie, wäre der beste Weg, um Korruption zu unterbinden?

Thomas Wieczorek: Es klingt unglaublich, aber bis heute ist die Bestechung von Abgeordneten nicht strafbar, sondern nur der Stimmenkauf bei einer Abstimmung. Wir müssen wenigstens den Gesetzesstandard anderer Staaten der westlichen Welt erreichen. Zweitens müssen Strafen abschreckend sein. Wenn jemand weiß, ihm kann sowieso nicht viel passieren, warum sollte er dann unbestechlich sein? Des Weiteren müssten bestimmte Formen faktischen Bestechung verboten werden: Viele Politiker halten zum Beispiel Jobs in den Branchen, denen sie in der Regierung gefällig waren. Ganz verhindern kann man Korruption jedoch nie, aber man kann sie zumindest riskanter machen, auch durch größere Transparenz. Wenn einer zum Beispiel im Beirat einer Versicherung sitzt und ständig für diese Branche eintritt, sollte dies der Bürger wissen.

FT: Ihre Bücher decken viele Skandale auf und stellen in einer gewissen Weise sogar unser System in Frage, Lösungsvorschläge sucht man jedoch vergebens. Woran liegt das?

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Thomas Wieczorek: Es gibt einfach noch zu viele offene Fragen, wobei ich derzeit meine, dass die allgemeine Bildung ein Knackpunkt ist. Wahlen und sogar Volksentscheide werden zur Farce, wenn die wenigsten Bürger wissen oder auch nur ahnen, wen sie da wählen und worüber sie abstimmen. Heutzutage gewinnt einfach die bessere Demagogie. Dennoch ist es besser (und auch nach dem Gesetz der „kollektiven Intelligenz“ bedeutend besser), in wichtigen Fragen das Volk anstatt einige wenige, ebenso ahnungslose, Politiker entscheiden zu lassen. Schließlich hat die rot-grüne Regierung sowohl die Heuschrecken als auch verschiedene halb-kriminelle Börsenpraktiken zugelassen: Mehr Schaden als Regierungen können zumeist auch die Volksentscheide der ahnungslosesten Bürger nicht anrichten. Nicht vergessen sollte man, dass auch der Volksentscheid eine reine Abstimmung ist. Ebenso wichtig wäre die direkte Beteiligung am Entstehen von Projekten bis hin zu Grundsatzentscheidungen: Soll der Maximalprofit das Grundprinzip unserer Gesellschaft werden oder ein Gemeinwesen, das möglichst viele Menschen als lebenswert empfinden. Im Grunde ähnelt die Entscheidung der eines Normalmenschen, ob er sich mit Überstunden und „Leben für den Job“ ein dickes Konto verdient, von dem er aber allein aus Zeitgründen nichts hat, oder ob er zugunsten von Freizeit nicht auf einen Teil des Geldes verzichtet. Kurzum: Es sind noch zu viele Fragen ungeklärt, als dass man jetzt schon ein Allheilmittel aus dem Hut zaubern sollte.

FT: Welcher Politiker, denken Sie, hat durch seine Unfähigkeit unserem Staat am meisten geschadet?

Thomas Wieczorek: Schwer zu sagen. Möglicherweise die rot-grüne Regierung durch ihre schon erwähnten Freibriefe für nahezu alle Formen der Spekulation. Viel entscheidender aber sind einige Konstruktionen innerhalb unseres Staat und natürlich die Bürger, die diese Politiker überhaupt gewählt haben.

FT: Noch eine letzte Frage: Gibt es überhaupt noch den kompetenten und aufrichtigen Politiker?

Thomas Wieczorek: Natürlich, zum Beispiel der CDU-Bundestagsabgeordnete Uwe Schummer, der im Internet buchstäblich über jede Stunde seines Handels Rechenschaft ablegt.

Artikel: Christoph Baumann

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