Als 17-jährige Schülerin eines Gymnasiums fühle ich mich häufig ausgebeutet. Dies liegt daran, dass ich zuverlässig und verantwortungsbewusst bin. Brav setze ich mich nach Schulschluss an den Schreibtisch und erledige meine Hausaufgaben. Die Lehrerinnen und Lehrer werden jetzt sagen: „Das kann man ja wohl erwarten.“ Mitschülerinnen und Mitschüler wohl eher: „Gut für mich, dann muss ich keine Hausaufgaben machen.“ Würde man in meiner Klasse die Schultaschen zählen, die morgens ohne Hausaufgaben in die Schule kommen und noch vor der Stunde, auf die etwas auf war, welche enthalten, so käme man sicherlich häufig auf über 75 Prozent. Wirtschaftlich gesehen herrscht in unserer Klasse sozusagen ein Angebotsoligopol: Wenige Anbieter sollen eine große Menge mit einem Gut ausstatten. Egal, ob Deutschaufsatz, Mathematikhausaufgabe oder Englischübersetzung: Die Nachfrage boomt in jedem Fach, der Absatzmarkt ist riesig und eine Rezession ist nicht in Sicht! Doch anders als in der Ökonomie erhalten die Anbieter keinen Preis, sondern legen meist noch drauf. Die Abschreiber werden nämlich immer dreister. Die Frage morgens lautet: „Hast du die Hausaufgaben gemacht?“ Bejaht man, heißt es: „Gib sie mal her.“ Keine höfliche Frage, ob man mit dem Abschreiben überhaupt einverstanden ist und meist auch kein Dankeschön hinterher. Da investiert man nachmittags also viel Zeit in einzelne Fächer und steht am nächsten Morgen dann genauso da wie diejenigen, die keine Zeit geopfert haben. Insbesondere Lehrerinnen und Lehrer werden jetzt natürlich sagen, dann soll die Schülerin ihre Hausaufgaben einfach niemandem geben. Wenn man nicht die Hälfte des Tages mit diesen Leuten verbringen müsste und nicht als „Kameradenschwein“ gelten möchte, kann man dies machen, aber gerade heute, wo immer öfter Gruppenarbeit und Gemeinschaftspräsentationen verlangt werden, kann man dies nicht ohne Folgen tun, zumal diejenigen, die die Hausaufgaben machen, meist nicht die Wortführer der Klasse sind. Wagt man es dann einmal zu fragen, weshalb die Hausaufgaben nicht gemacht wurden, ich spreche jetzt nicht von Leuten, die ihre Aufgaben aus Versehen mal vergessen haben, erhält man Antworten wie: „Ich schreibe diese Woche drei Arbeiten und musste lernen“, „Ich habe meine Zeit sinnvoller genutzt“ oder „Ich wusste schon, dass ich es noch machen muss, aber abends hatte ich keine Zeit und Lust mehr und da dachte ich, ich stehe früher auf, hatte heute Morgen dann aber auch keine Lust und habe mich lieber noch einmal im Bett umgedreht“. Keiner zieht in Betracht, dass ich genauso viele Arbeiten schreibe, meine Zeit auch lieber in Hobbys investieren würde und oftmals auch keine Lust habe. Viele Lehrer argumentieren damit, dass es den Schülern schadet, wenn sie Übungen nicht selbstständig machen. Dazu kann ich nur sagen: Dieser Ansatz ist teilweise veraltet! Sehr häufig verbessern sie nämlich ihre mündliche Note! Schülerinnen und Schüler, die Hausaufgaben abgeschrieben haben, besitzen oftmals die Dreistigkeit sich noch freiwillig zu melden und die Lösung des Abschreibers vorzutragen. Das ist ein tolles Gefühl für den wahren Meister des Werks, wenn der Lehrer „den Kopierer“ lobt und einen ab und zu anschließend noch fragt, ob man etwas hinzuzufügen habe. Häufig ist es sogar der Fall, dass man keinen Überblick hat, wo die eigene Hausaufgabe überall verbreitet ist. Die Abschreiber des Originals händigen ihre Abschrift bereitwillig an weitere Mitschüler aus – der ursprüngliche Verfasser hat eigentlich keine Rechte mehr am Ursprungstext. Das Ergebnis, auf das man manchmal erst nach Stunden gekommen ist, wird innerhalb von wenigen Minuten erreicht. Die dadurch eingesparte Zeit wird von vielen genutzt, um ihren Hobbys nachzugehen, aber auch um auf Klassenarbeiten zu lernen. Der Lohn, den man erhält, weil man die Hausaufgaben verantwortungsbewusst erledigt hat, ist unter Umständen eine schlechtere Note in einer Arbeit, weil man weniger Zeit in die gezielte Vorbereitung stecken konnte. Da fragt man sich als pflichtbewusste Schülerin dann schon einmal, weshalb man die Aufgaben überhaupt erledigt. In erster Linie natürlich, um sich langfristig auf Fächer vorzubereiten, aber ich tue es auch deshalb, weil ich andere nicht ausbeuten möchte und nicht in das Abhängigkeitsverhältnis gelangen will, in dem die meisten Schüler stehen!
Artikel: Gymnasiastin, 17 Jahre
Materialien für Lehrer und Schüler
- Alle Abi-Materialien auf einen Blick: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/abi-vorbereitung/ und Power-Paket für Abi-Kämpfer: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/gesamt-strategie-fuer-abi-kaempfer/
- „Die Stillen in der Schule“ – Ermutigung + Strategien bei Introversion – zum Lesen, Ausdrucken und Anhören: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/die-stillen-in-der-schule-1-vom-glueck-der-introversion/
- „Jugend im Selbstspiegel“ – eigene Texte mit Zeichnungen, präsentiert in einer öffentlichen Lesung: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/der-mensch-mit-dem-schizophren-denkenden-herzen-und-der-verwirrten-seele/
- „Handy, Schule und unser Gehirn“, neurologisch-psychologische Forschungsergebnisse in Blick auf Handys und soziale Medien: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/alle-vorsaetze-sind-fuer-den-arsch-wenn-man-sich-nicht-daran-haelt/
- „Handyverbot an Schulen – und wir haben ein Problem weniger!“: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/handyverbot-an-schulen/
- „Die Macht der Disziplin“ – diszipliniert → erfolgreicher, stressfreier und glücklicher: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/disziplin-erfolgsfaktor-in-der-schule-einfuehrung/
- „Schülerzeitungsermutigung“ (22 Artikel) – Rückblick, Tipps und Strategien für Schüler-Freiraum: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/redaktionsgroesse-zwei-pizza-regel/
- „Faule Säcke, werdet Lehrer!“ – billiger Populismus gegen den Lehrerberuf durchs Kultusministerium: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/faule-saecke-aller-laender-werdet-lehrer-in-baden-wuerttemberg/