Hesse: „Der Steppenwolf“, Lehrer-Brief an den Steppenwolf

Lieber Steppenwolf,

ich nenne dich jetzt einfach so und duze dich, denn zu Beginn deines Widerspiegelungs-Traktats blieb für dich von Harry nur der „Steppenwolf“ übrig.

Steppenwolf, war es denn nicht möglich, deine Seelenklage um hundert Seiten zu kürzen, allen Schülern und Lehrern zum Wohle? Du stilisierst dich in die Verworrenheit von Glücksfähigkeit und Leidensfähigkeit hinein, „leidvolle Bewegung und Brandung … schmerzvoll zerrissen … schauerlich … sinnlos“ (S. 59), lass gut sein, es reicht! Ehrlich, dein ständiges Selbstmitleid in erhabenen, sprachtänzelnden Formulierungen – ständig kreisend, ständig wiederholend – verlor schnell seine Zauberkraft, langweilte mich und machte mich am Ende aggressiv, mein Wolf hätte gerne deinem den Gar ausgemacht, damit endlich Ruh‘ ist. Ich stoppe hier!

Steppenwolf, was wäre eigentlich gewesen, wenn du dich knapp hundert Jahre in die Zukunft gebeamt hättest, also in unsere Zeit? Dann hättest du deine hundert Identitäten – Hermine, Hermann, Pablo, Mozart, männlich, weiblich und alles sonst noch Mögliche – im Netz ausleben können. Steppenwolf, du kennst doch das Credo des Psychoanalytikers C. G. Jung: „Werde, der du bist!“? Du hast dich der Löffelliste, „The Bucket List“, gestellt, „Das Beste kommt zum Schluss“: Sex mit Maria, moderner Tanz mit Hermine, neue Offenheit dank ihr und noch einen Psycho-Trip, nicht nur einen, durch Pablos Gemisch – und sogar zu Hermines Auftragsmörder bist du geworden, Respekt, echt! Bei dir kam viel „Bestes zum Schluss“! Und die Selbstdistanzierung dank Humor ist wirklich deine Chance, du hast dich klug in diese Lösung geschrieben – vom Selbstmitleid zur Selbst(er)lösung. Sich im Schreiben finden: erfolgreiche Schreib-Therapie, ich nehme die Hundert-Seiten-Kritik von oben zurück, du hattest die 278 Seiten gebraucht. Aber, mal ganz ehrlich, bist du bei dir angekommen, in dir, in deinem Selbst, in deinem Kern? Das Urteil am Schluss des Buches: die Strafe ist ausgesetzt zur Bewährung! Du kannst es packen, wenn du deine hundert Identitäten mit viel Humor in ein Paket packst und damit du wirst, der du bist – also den Sack zubindest, das Paket verschnürst, deinen Selbstentwurf zur Tat werden lässt, aber dann auch endlich zu deiner Mitte kommst. Ich traue es dir so recht nicht zu! Du bist zu maßlos, ohne Begrenzung, du Steppenwolf-Faust! Aber du würdest wunderbar in unsere Zeit passen!

Willkommen im Club 2020: „biografischer Gestaltungsdruck“, alle Chancen ausschöpfen, ruhelos, rastlos, keine Party versäumen, kein Event auslassen, überall drin, aber nirgends dabei, hundert Identitäten fordern tausend Möglichkeiten, die hundert zu leben, nicht wissen, wer man ist, aber das ständig optimieren – auch eine Form des ungelebten Lebens als „proteische Persönlichkeit“ am Ende der eigenen Lebenszeit. Proteus, griechischer Meergott, konnte seine Gestalt spielerisch verändern, sein hoher Preis: Nie fand er sich selbst! Steppenwolf, mir imponierte deine Offenheit für Neues, aber für mich beginnt die entscheidende Lehre nach dem Ende des Selbstbekenntnisses. Wie bekommt man das Glück des Angekommenseins, des Ruhens in sich, in Harmonie – und trotzdem in Lebendigkeit? Steppenwolf, bei allem Seelenstriptease, wann wird aus allen Fragen eine für dich befriedigende Antwort?

Deine Anfrage an uns, Lehrer und Schüler: wie wird unsere persönliche Fortsetzung des Romans aussehen, wie werden wir sie in Verantwortung, in Hingabe an eine Aufgabe, in Beziehung zu einem, zu verschiedenen Menschen, leben, um am Ende zu sagen: Ich wurde, der ich war!

Danke, Steppenwolf, mir/uns diese ganz persönliche Aufgabe auf unserem Lebensweg mitgegeben zu haben, die du selbst im Roman offenlässt.

Artikel: Klaus Schenck

Fotos/Schenck: Hesse-Museum in Montagnola/Tessin/CH, Sept. 2019

Sendung/Schenck (Inhalt + Interpretationsaspekte): Hesse/„Der Steppenwolf“: https://www.youtube.com/watch?v=PUI0Pr2SHX4

Kopiervorlage/Schenck: http://www.klausschenck.de/ks/downloads/g68-hesse-steppenwolf-ueberblick.pdf

Hausarbeit/Schülerarbeit: http://www.klausschenck.de/ks/downloads/g72-literaturhausarbeit-steppenwolf-2018-verbe.pdf

Materialien für Lehrer und Schüler

Klaus Schenck, OSR. a.D.
Fächer: Deutsch, Religion, Psychologie
Drei Internet-Kanäle:
Schul-Material: www.KlausSchenck.de
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„Vom Engagement-Lehrer zum Lehrer-Zombie“/Bange-Verlag 2020:
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Über den Autor

Klaus Schenck unterrichtete die Fächer "Deutsch", "Religion" und "Psychologie". Er hatte 2003/04 die Schülerzeitung "Financial T('a)ime" (FT) zunächst als Printausgabe ins Leben gerufen, dann 2008 die FT-Homepage, zwei Jahre später die FT-Sendungen auf YouTube (www.youtube.com/user/financialtaime) , zusätzlich ist noch seine Deutsch-Homepage (www.KlausSchenck.de) integriert, sodass dieses "Gesamtpaket" bis heute täglich auf rund 1.500 User kommt. Mit der "FT-Abi-Plattform" wurde ab 2014 das Profil für Oberstufen-Material - über die Schülerzeitung hinaus - geschärft, ab August 2016 ist wieder alles in einer Hand, wobei Klaus Schenck weiterhin die Gewichtung auf Schulmaterial beibehält und die Internet-Schülerzeitung (FT-Internet) bewusst auch für andere Interessierte öffnet.

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