Da vorne ist sie, die Alois-Eckert-Werkstätte für Menschen mit Behinderung. Selbstbewusst und erhaben sitzt sie auf der Anhöhe hinter Gerlachsheim und überblickt das sich schlängelnde Tal bis kurz vor Grünsfeld. Ganz im Gegensatz zu mir. Auf dem Weg die lange Straße hinauf jagen wirre Gedanken durch meinen Kopf. Ich habe dort gleich einen Interviewtermin und obwohl ich mich gut vorbereitet habe, fühle ich mich, als wollte ich mich gleich wie ein Lemming in die Tiefe stürzen. Wie ich da hinein geraten bin? Na, so wie immer – mit einem Gedanken, der mich nicht mehr los lässt und einer großen Portion Euphorie.
Vor gut einem Jahr bin ich nach Gerlachsheim gezogen und in einem Dorf wie diesem kennt man schnell alle Sehenswürdigkeiten, sofern es überhaupt welche gibt. So wusste ich auch, dass es diese Werkstätte gibt und einmal hatte ich sie auf dem Weg nach Grünsfeld sogar von weitem gesehen. Je mehr dann aber der Alltag eintritt, desto mehr schwindet die Erinnerung daran und das Interesse. Na ja, zumindest bis zu diesem Schuljahr. Mit dem neuen Stundenplan ergaben sich für mich auch andere Uhrzeiten für die Busse und auch wann ich heim kam. Und einmal, ich stand morgens an einer, für Gerlachsheim untypisch langen Warteschlange vor dem Bus, als ein Mann, der eben aus demselben Bus ausgestiegen war, meinen herum schweifenden Blick auffing und mich ganz frech angrinste. Dieses Erlebnis bescherte mir viel Material für meine Gehirnwindungen, denn es war offensichtlich gewesen, dass dieser Mann eine Behinderung hatte und auf dem Weg zur Werkstätte war. Was mich daran dermaßen beschäftigte, war nicht die Tatsache, dass er mich angegrinst hatte, sondern vielmehr die Reaktion, die es in mir auslöste. Denn mir wurde plötzlich klar, dass ich ihn angestarrt hatte, wenn auch unbeabsichtigt. Das ist mir ehrlich gesagt schon öfter passiert, immer dann, wenn ich zum Beispiel auf der Straße ein Gruppe von Behinderten spazieren gehen gesehen habe. Ich fühle mich immer schlecht dabei, weil es mir selbst unangenehm ist angestarrt zu werden, also schaue ich meist auf den Boden vor mir. Dann frage ich mich, ob sich diese Menschen dann nicht ausgestoßen fühlen, wenn ich versuche sie zu ignorieren. Also doch lieber den Blickkontakt suchen und lächeln. Was aber, wenn das Lächeln verkrampft rüber kommt und sie denken, ich würde sie auslachen oder mich über sie lustig machen? Also doch lieber den Boden anhimmeln und schnell vorbei gehen. Diese und noch viele andere Gedanken spukten mir im Kopf herum. Fest stand aber, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich mich gegenüber Menschen mit Behinderung verhalten sollte. Und wie der Zufall es wollte, bekam ich die Möglichkeit mir die Antworten direkt an der Quelle zu holen.
Ich informierte mich, um möglichst alles über die Alois-Eckert-Werkstätte und die Arbeit des Caritasverbandes vor Ort zu wissen und formulierte Fragen, die schnell zu einer Antwort führen sollten. Der Termin stand fest, ich hatte meine Utensilien bereit, jetzt konnte es los gehen.
Nun bin ich also auf dem Weg zur Werkstätte um meine Neugier zu stillen und für meinen Artikel zu recherchieren.
Doch aus der anfänglichen Euphorie ist innerhalb von wenigen Metern eine Panik geworden, die kaum zu kontrollieren ist. Es fing mit schwitzenden Händen an, äußert sich jetzt in Magenkrämpfen und Übelkeit und geht langsam in Herzrasen über. So voll gepumpt mit Adrenalin bin ich sonst nur bei wichtigen Klausuren und es fällt mir schwer mich unter Kontrolle zu bringen, zumal mein Schritttempo immer schneller wird, obwohl ich eh viel zu früh dran bin. Ich versuche mich auf meine Fragen zu konzentrieren, die ich vorbereitet habe, aber jeder Versuch einen klaren Gedanken zu fassen schlägt fehl. Gut, dann eine andere Strategie: Warum habe ich gerade Angst? Blöde Frage! Natürlich, weil ich nichts falsch machen will, weil ich Angst habe, mich unangebracht zu verhalten, sie wie Kinder anzusprechen oder zu viel von ihnen zu fordern. Mir kommt plötzlich der Gedanke, dass ich mich vielleicht überschätzt habe. Ich bin nicht geschult im Umgang mit Menschen mit Behinderung und ich weiß auch nicht, was es heißt, mit ihnen zu leben und zu arbeiten. Eine ganze Welle an Gedanken überflutet mich, welche Bürden eine Behinderung wohl mit sich bringt?
Mein Handy meldet eine SMS und reißt mich aus meinen Gedanken. Mein Freund wünscht mir viel Glück beim Interview und erinnert mich an eine entscheidende Sache: „Du kannst gut mit Menschen umgehen!“ Ich fange mich wieder, weiß wieder, warum ich hier bin. Ich bemerke, dass ich schon vor dem Eingang stehe und steige mit unsicheren Schritten die Treppe hinauf.
Im Gebäude erwartet mich eine wohlige Atmosphäre. Überall hängen bunte Bilder, ich sehe Grünpflanzen und alles ist durchflutet vom Sonnenlicht, das durch die großen Fenster herein kommt. Herr Schenk, ein Sozialpädagoge der Werkstätte, der mich bei meinem Interview begleiten und unterstützen soll, stellt sich mir vor und nach einem kurzen, einführenden Gespräch geht es auch schon los.
Wir gehen hinüber zum Neubau, während ich ein paar allgemeine Fragen zur Werkstätte stelle, um mich selbst ein wenig aufzulockern. Noch immer spüre ich die Anspannung in allen Gliedern und Konzentrieren fällt mir ernsthaft schwer. Die ersten Räume betrete ich ziemlich unsicher und anstatt auf die Menschen vor mir zuzugehen, schaue ich mir die Regale an und frage Herrn Schenk Dinge, die ich eigentlich schon aus dem Internet und den Broschüren weiß. Ich fühle mich total unfähig, überhaupt irgendwie ins Gespräch zu kommen. Zwar werde ich offen empfangen und manchmal auch angelächelt, aber ich ziehe mich lieber aus der Affäre und dränge zum Weitergehen. Wir betreten einen Raum, in dem nun deutlich mehr Menschen beschäftigt sind. Wieder fange ich an, mich über die Arbeit hier zu erkundigen, als mir einfällt, dass ich unbedingt Bilder machen muss. Also frage ich Herrn Schenk, ob dies in Ordnung sei. Mit der Erlaubnis trete ich an einen Tisch heran und frage die drei Männer, die dort sitzen, ob ich sie fotografieren dürfte, da diese mich schon die ganze Zeit erwartungsvoll anschauen. Mit heftigen Nicken und einem strahlenden Gesicht wird mir geantwortet und mit einem Schlag löst sich der Brocken in meinem Hals und die steife Bleiform, in der ich mich bewegte, fällt von mir ab. Ich mache das erste Foto und da steht auch schon Udo neben mir, der mir versichert, wie gerne er fotografiert. Ich könnte durch sein direktes Ansprechen eingeschüchtert sein, tatsächlich bin ich aber zutiefst dankbar, dass der erste Kontakt von seiner Seite aus geschaffen und das Eis, oder vielmehr der Gletscher, zwischen uns gebrochen ist.
Plötzlich geht alles ganz schnell und Udo hat meine Kamera, ich sitze zwischen zwei anderen Jungs und kann endlich entspannt lächeln, ja sogar lachen. Der Druck von meinem Kiefer ist weg und ich spüre wie langsam das Blut wieder bis in die Fingerspitzen fließt. Ich habe engen Körperkontakt zu Menschen, denen ich zum ersten Mal begegne und fühle mich pudelwohl dabei. Mit der wiedergewonnenen Euphorie verabschiede ich mich bei allen Anwesenden und winke sogar zum Abschied, als kenne ich diese Menschen schon ewig, und mit Vorfreude geht es weiter.
Wir kommen nun in die Metall- und Holzverarbeitung und hier werde ich auch gleich wieder von meiner Wolke runter geholt. Die Menschen hier sind nicht unfreundlich oder desinteressiert, nur gehen sie nicht ganz so offen auf mich zu wie einen Raum zuvor. Sie sind einfach beschäftigt und konzentriert an den schweren Maschinen, was rational auch vollkommen verständlich ist, mich aber nicht daran hindert, wieder in meine Bleiform zu schlüpfen wie ein verängstigtes Tier. Wieder stelle ich sehr allgemeine Fragen über den Betrieb an Herrn Schenk und lasse mich, so schnell es geht, weiter führen. Ich mache noch ein Foto und als wir den Raum verlassen, würde ich mich am liebsten ohrfeigen. Ich hatte es doch schon geschafft und ich wusste doch, dass es nicht schwer ist ein Gespräch zu beginnen, das hatte mir Udo bewiesen. Was wäre so schwer daran gewesen, einfach mal nach dem Namen zu fragen und mich selbst vorzustellen? Tatsache ist, dass ich diejenige bin, die nicht normal auf diese Menschen zugehen kann. Und es geht auch nicht um die Behinderung dieser Beschäftigten, sondern darum, dass ich mich selbst und ein Kennenlernen behindere. Wäre es eine sprachliche Barriere, ich könnte mich auch mit Händen und Füßen verständigen, kein Problem. Aber was mich hindert, ist in meinem Kopf und das zu überwinden scheint unmöglich.
Ich bin jetzt ziemlich niedergeschlagen und ich schäme mich ein bisschen, dass ich nicht in der Lage bin, diesen Rundgang als Möglichkeit für mich zu nutzen, um meine Fragen zu beantworten. Wir kommen nun wieder in einen Bereich, in dem hauptsächlich Teile zusammengesetzt werden, und diesmal sind wesentlich mehr Menschen im Raum beschäftigt. Sobald wir durch die Tür getreten sind, werden wir von allen Seiten beäugt, was mich nur noch unsicherer macht. Wir treten an einen Tisch heran, an dem Herr Schenk einen Kollegen anspricht, und plötzlich bekomme ich die berühmte zweite Chance, was ich aber erst im Nachhinein erkennen kann. Denn wie aus dem Nichts tritt einer der Beschäftigten an mich heran und bleibt so kurz vor mir stehen, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren kann. Aus Reflex würde ich normalerweise einen Schritt zurück treten, aber ich bin so überrascht, dass ich stocksteif stehen bleibe. Und da prasselt auch schon ein Schauer an Fragen auf mich herab, wer ich sei, was ich hier tue, warum ich einen Haarreif trage. Während ich versuche alles zu beantworten, umzingeln mich noch mehr Menschen mit Behinderung und nun kommen die Fragen aus allen Richtungen und durcheinander. Zwischen meinen Antworten versuche ich um Ordnung zu bitten, damit ich alle Fragen hören kann, aber es scheint zwecklos. In dem ganzen Durcheinander bin ich nach kurzer Zeit so überfordert, dass sich die Lösung meines Problems von ganz alleine einstellt: Der Hauptrechner wird heruntergefahren, mein Kopf mit all seinen behindernden Dateien ist ausgeschaltet.
Ab jetzt ist alles so einfach. Ich bemerke, wie mich eine Frau von den anderen wegzieht und mich zu ihrem Arbeitsplatz führt. Meine wohl durchdachten Fragen sind alle vergessen und ich erkundige mich nach dem Befinden der Frau und ihrer Tischnachbarn, wir plaudern über banale Themen. Mir werden verschiedene Arbeitsschritte erklärt und ich erfahre Sachen, die ich nicht schon aus den Broschüren weiß. Ich fühle mich währenddessen so wohl, dass mein Zeitgefühl total verloren geht. Mein einziges Problem besteht jetzt noch darin, allen gerecht zu werden und möglichst mit allen sprechen zu können, die auf mich zukommen. Wie lange ich mich mit diesen Menschen unterhalte, weiß ich nicht. Es ist auf jeden Fall zu wenig Zeit, um das Interesse beider Seiten zu stillen, aber so langsam kommt mir wieder mein Pflichtbewusstsein in den Sinn und ich denke an die knapp bemessene Zeit Herrn Schenks, der bestimmt noch viel zu erledigen hat. Also verabschiede ich mich bei all meinen Gesprächspartnern, das dauert diesmal ein bisschen länger. Wieder auf meiner Wolke sitzend, gehe ich zurück zu Herrn Schenk, deute ihm, dass es nun weiter gehen kann, und wir verlassen den Raum, wobei ich so mit positiver Energie geladen bin, dass ich buchstäblich Bäume ausreißen könnte oder zumindest sehr gute Laune habe.
Auf dem Weg zur letzten Besichtigung bin ich mit dem Kopf wieder voll da, aber diesmal mit Endorphin gepusht, motiviert und zu allem bereit. In diesem Raum werden Elektroarbeiten gemacht. Vor uns steht gerade der Meister und kontrolliert einen Schaltkasten. Ich versuche intelligente Fragen zu stellen und scheitere fürchterlich, da ich gerade mal eine Glühbirne wechseln kann. Ich wollte so viele Fragen an die betreuenden Angestellten stellen, aber mir fehlt jetzt definitiv der Übergang und außerdem das Interesse an ihnen. Da winkt mir schon jemand von den Werktischen herüber und ich bin froh, dass ich die Männer mit ihren Kabeln und Fachsimpeleien alleine lassen kann. Ich gehe einfach auf jemanden zu, strecke ihm die Hand entgegen und stelle mich vor. Schon bin ich mitten in einem Gespräch und erzähle mittlerweile mehr von mir, als dass ich Fragen stelle. Tischnachbarn klinken sich mit ins Gespräch, man hofft beiderseitig endlich Wochenende zu haben und kann den Frühling kaum noch erwarten. Mit einem leichten Lächeln stelle ich fest, dass ich mich noch nie so ungezwungen und normal mit fremden Menschen unterhalten habe. So komme ich um den ganzen Tisch herum und lerne die Freundinnen Jeannine und Gesine kennen.
Es fehlte nur noch der Kaffee und die Käse-Sahne-Torte und wir würden den Werkraum in das deutsche Kaffeeklatsch-Zentrum verwandeln. Wir lachen über Jungs und ihre Eigenarten und tauschen uns über unliebsame Tätigkeiten bei der Arbeit aus. Wir sind schon fast im Übergang zur weiblichen Lästerparade, als Jeannine eine Bemerkung macht, die mich völlig aus den Nylonstrümpfen reißt: Sie mag meine Art, so offen auf Leute zuzugehen. Baff, besser kann man mein Empfinden nicht beschreiben. Wenn sie wüsste, welche Kraft es mich gekostet hat, obwohl es dann schließlich doch so einfach war auf sie und ihre Kollegen zuzugehen. Und plötzlich habe ich das Bedürfnis ihr meine Schwierigkeiten auch mitzuteilen, zumal wir uns so gut verstehen. Also versuche ich zu erklären, warum ich überhaupt diesen Artikel schreiben will. Dass ich lernen will, wie ich richtig auf Menschen mit Behinderung reagieren soll, um meine falschen Vorstellungen hinter mir zu lassen. Sie bemerkt, dass mir dieses Thema noch Unbehagen bereitet und sofort sind wir schon wieder im allerbesten Glucken-Tratsch.
Einige Zeit später kommt mir dann wieder Herr Schenk in den Sinn und ich fange an mich zu verabschieden. Ich würde gerne noch viel länger bleiben, aber zum Trost macht mir ein anderer Beschäftigter den Vorschlag, ich solle mich doch als Praktikantin bewerben. Als ich das Gebäude verlasse, komme ich nochmals an dem Gebäude vorbei, in dem ich Udo kennengelernt habe. Ein paar Leute, die ich wieder erkenne, stehen am Fenster und ich winke ihnen einfach. Ich bin entspannt, glücklich und lasse ein paar Erlebnisse gleich nochmal in meinem Kopf Revue passieren. Schon fast zu Hause muss ich unwillkürlich lachen, weil ich an die Szene denke, in der ich von den vielen Menschen umzingelt wurde. Es muss bestimmt ziemlich komisch ausgesehen haben, aber auf jeden Fall bin ich aus der Menge herausgestochen, denn ich verhielt mich definitiv nicht normal.
Mein Ziel habe ich noch lange nicht erreicht, denn wie bei dem meisten neu Gelernten vollendet erst die Übung die Praxis. Aber ich habe den ersten und größten Schritt schon hinter mir. Ich habe alte Denkweisen abgelegt und den Kontakt aufgenommen. Und ich bin stolz darauf erkannt zu haben, wo meine Schwierigkeiten im Gespräch und Kontakt liegen. Daraus ist sogar ein kleiner Selbsthilfespruch geworden: „Ich bin behindert, und du?“
Vielleicht habe ich bald wieder die Möglichkeit einen behinderten Menschen kennenzulernen, um meine neuen Erfahrungen zu vertiefen und zu erweitern. Tipps für den Umgang sind denkbar simpel:
1. Gehe offen auf dein Gegenüber zu, beachte dabei aber seine Gemütslage, es könnte nämlich sein, dass er jetzt gar kein Gespräch will.
2. Übers Wetter zu reden kann manchmal zu interessanten Themen führen.
3. Das Gespräch wird sich von ganz alleine entwickeln, aber achte immer auf Stimmung und Körpersprache deines Gesprächspartners.
Diese Tipps sind natürlich für alle Menschen und nicht nur für eine bestimmte Gruppe sinnvoll, denn ich habe einen ganz entscheidenden Grundsatz gelernt: „Sie sind nur anders, wenn du sie anders behandelst!“
Artikel: Verena Geuß
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