Interview mit einer Schwerkranken

Vorwort

Für uns ist es normal einen Stift in die Hand zu nehmen und etwas zu schreiben oder ein Glas zu halten und daraus zu trinken. Wir denken gar nicht darüber nach, welche Bewegung als nächstes folgt, sondern bewegen uns, wie wir Lust haben. Mal schnell, mal langsam, mal träge und auch stolz durchs Leben. Wir drücken mit unseren Bewegungen und Gestiken Gefühle aus – Schmerz, Freude, Zorn und Liebe. Dies tun wir sogar häufig unbewusst. Das ist für UNS normales Leben.

Was passiert mit uns, wenn wir all das vom einen auf den anderen Tag nicht mehr können? Wenn wir nicht mehr Herr über uns selbst sind und es auch nie wieder sein werden?

Was wird aus uns???

. Was passiert mit mir?
. Was wird aus mir – meiner Zukunft?

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Diese Fragen stellt sich die damals 42 – jährige Gabi Gartner, als sie 2003 die Diagnose bekommt, die für sie den Tod bedeutet.

Amyotrophe Lateralsklerose, auch ALS genannt, ist eine unheilbare Krankheit des Nervensystems, deren Erscheinungsbild nacheinander folgende Lähmungserscheinungen sind. Das heißt, dass im Gehirn Nerven vernichtet werden, die für die Bewegung, die Atmungsfunktion und die Sprachmuskulatur verantwortlich sind. ALS selbst ist heutzutage noch äußerst unerforscht, was bedeutet, dass bis jetzt noch keine Therapiemöglichkeiten entwickelt werden konnten, die für die Zukunft eine mögliche Heilungschance bedeuten könnten. Dazu kommt noch die Tatsache, dass der Verlauf von ALS bei jedem Erkrankten unterschiedlich abläuft, was die Bekämpfung dieser Krankheit erschwert.

Tragisch ist die Tatsache, dass meist das motorische Nervensystem betroffen ist, das heißt, der/die Erkrankte bekommt bei vollem Bewusstsein mit, wie die Krankheit Nerven zerstört, die eine Bewegung ermöglichen. Das Resultat ist eine langsame Erlahmung aller Gliedmaßen, Krämpfe bzw. Spastiken sowie der Verlust jeglicher Freiheit und Menschenwürde!

In einem Interview zeigt Frau Gartner mir, was es bedeutet in so einer Lebenssituation gefangen zu sein:

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ALS! Eine Schockdiagnose – Was war Ihr erster Gedanke?

Frau Gartner: Mir wurde bei der Diagnose schlagartig bewusst, dass ich mich nicht auf meine Familie und auch auf meine Freunde verlassen kann. Ich kann mich nur auf mich selbst verlassen, da einem Partner die Krankheit nicht zumutbar ist. Damals stand auch Suizid für mich im Raum, da meine Verzweifelung grenzenlos war. Im Grunde habe ich es nur meiner damaligen Feigheit und meinem Lebenswillen zu verdanken, dass ich diesen Gedanken nicht verwirklicht habe.

Wie war Ihr Leben vor dem Beginn Ihrer Krankheit?

Frau Gartner: Mein Leben war sehr hektisch und unruhig, da ich schon immer ein sehr tatkräftiger Mensch gewesen bin. Ich war eine Perfektionistin, ein Workaholic! Als dann mein Mann unerwartet starb und sowohl ich als auch meine damals erst 14 – und 16 – jährigen Töchter nicht wirklich Abschied nehmen konnten, weil alles so schnell ging, wurde mir klar, dass ich nun völlig allein sein würde Ein halbes Jahr später habe ich dann die erschütternde Diagnose – ALS – bekommen.

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Wann haben Sie begonnen die Krankheit zu akzeptieren?

Frau Gartner: Ein halbes Jahr habe ich gebraucht, um meine Krankheit zu akzeptieren. Nach einem Jahr und reichlicher Überlegung hatte ich dann die Kraft, meine privaten Angelegenheiten zu regeln, das heißt, mein Testament zu schreiben und auch meine Beerdigung zu planen, wobei ich sagen muss, dass es sehr viel Kraft kostet mit 43 Jahren akzeptieren zu müssen, dass man nicht mehr viel Zeit hat und gehen muss, auch wenn man noch nicht alles erlebt und gesehen hat, was man sich für sein Leben noch gewünscht hätte.

Wie sehen Sie Ihr Leben mit der Krankheit?

Frau Gartner: Es ist ein fremd gesteuertes Leben und Dasein. Solch eine Krankheit nimmt einem von “ A -Z “ alles im Leben. Durch meine Lage fühle ich mich sehr fremdbestimmt, da ich ohne Versorgung anderer sterben würde. Ich fühle mich in meiner Freiheit und Intimsphäre als Frau und als erwachsene Person beraubt.

Wie sehen Sie Glaube im Bezug auf Ihre Krankheit?

Frau Gartner: Gar nicht, da mir Glaube in meiner Lage nicht weiter helfen kann. Für mich hat Glaube etwas mit Träumen zu tun, also Träume auch verwirklichen zu können. Ich habe nie die Möglichkeit gehabt zu träumen, da mein Elternhaus so etwas nie akzeptiert hat. Mir wurde nicht erlaubt zu träumen

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Wie hat sich Ihr Fühlen und Denken mit der Krankheit entwickelt?

Frau Gartner: Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, ich hätte mich umgebracht, dann wäre mir und anderen viel Leid erspart geblieben. Mein Leben wird von Tag zu Tag eingeschränkter und es ist ein sehr beklemmendes Gefühl, wenn man weiß, dass einem die Zeit davon läuft. Andererseits habe ich auch noch meine Kinder, die dann ganz ohne Eltern aufgewachsen wären und ich hätte niemals sehen können, wie sie erwachsen werden und sich verändern und ihr Leben versuchen zu „meistern“.

Wie sehen Sie sich gegenüber einem gesunden Menschen?

Frau Gartner: Sehr im Nachteil. Es bleibt immer ein Stückchen Neid auf die Menschen, die Träume haben und sich diese auch erfüllen können, egal ob Kind oder Erwachsener, wenn man dies nicht mehr kann, hat man etwas sehr Wertvolles verloren.

Schlusswort

Frau Gartner: Der gesunde Mensch soll sich von Anfang an sein Leben so schön wie möglich machen. Das aktive und wirklich bedeutende, lebenswerte Leben kann so schnell vorbei sein, dass man es gar nicht realisieren kann.

Du brauchst für einen Kampf auch immer ein wenig Hoffnung, auch wenn er, wie in meinem Fall, den Tod mit sich bringt. Ich kämpfe für meine Erlösung von Leid und Fremdbestimmtheit.

Artikel: Lisa Redlich

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