Jenny Erpenbeck „Heimsuchung“: Heimat – gelebt, gesucht, gefunden?

Liebe Schülerin, lieber Schüler,

Erpenbecks „Heimsuchung“ ist keine leichte Lektüre. Mein Vorschlag für einen Einstieg ist die Frage: Was bedeutet dir Heimat und wo hast du sie erlebt oder genau nicht erlebt? Gehe für eine kurze Zeit mit mir in meine vielfältigen Heimaterlebnisse und schreibe dann über deine, nimm dir dafür die notwendige Zeit, sprich mit deinen Eltern, deinen Großeltern und all den Personen, die dich prägten. Es lohnt sich für dich und schafft gleichzeitig eine Offenheit, den so unterschiedlichen Heimatentwürfen des Romans zu begegnen und ihnen deine Heimatgedanken und -erfahrungen entgegenzusetzen und sie so zu vertiefen.

Kindheit auf dem Land – Eppingen

Heimat ist für mich ein extrem positiver Begriff: Heimat ist, wo ich glücklich bin, mit viel Geborgenheit, Sicherheit und gleichzeitig Freiheit. Wir wohnten in Eppingen/Kraichgau – zwischen Heidelberg und Heilbronn, mein Vater war dort Richter und nahm sich sehr viel Zeit für mich – fast jeden Sonntag eine Wanderung mit erzählten Märchen. Er hatte klare Vorstellungen, die er konsequent lebte, so hatten wir keinen Fernseher, das Gespräch in der Familie ersetzte ihn, wofür ich ihm bis heute dankbar bin. „Konsequenz und Liebe“ – so die Erziehungsprämisse meines Vaters, was stark an „Wurzel und Flügel“ für ein Kind erinnert.

Lehrer-Warmlaufphase an meiner Schwester – sechs Jahre jünger

Alles war mit einem Zauber durchzogen, erschien mir groß, spannend und voller Abenteuer: Wenn ich mit vielen Kameraden in unserem riesigen Garten tobte, Apfelschlachten machte, auf Bäume kletterte und das Geheimnis des verwunschenen, total staubigen Speichers gemeinsam mit den vielen anderen erkundete oder wir uns im muffigen Kohlenkeller versteckten. Wir heizten damals noch mit Kohlen und wohnten im Amtsgericht, hohe Räume mit Durchgangstüren zu jedem Zimmer. So rannte mein Vater als Weichenwärter von einer Tür zur anderen: Tür zu – Weiche geschlossen, Tür auf – freie Fahrt und ich auf dem Dreirad.

Meine Kindheit auf dem Land: ungemein aufregend zwischen der Kriminellen, dem „Dorfdeppen“, dem Mord, dem Brand, dem Unfall, ständig passierte etwas und wir erlebten es, machten es in uns groß, gigantisch, machten uns zu Polizisten, Soldaten, Kämpfern, machten die banalsten Gegenstände zu Waffen, zu Rettungsseilen, zu Feuerwehrschläuchen, verteidigten auf der Amtsgerichtsmauer, kickten auf dem Acker, verletzten uns und nahmen es wie „Helden“.

Das Land als Ort der Flügel, die Familie als Ort der Geborgenheit, gleich einer Burg, auf die ich mich nach all den Abenteuern des Tages freute, fast schon mich nach ihr sehnte, die mir Schutz und ganz viel Sicherheit bot, wo ich wieder „kampfbereit“ gepflegt wurde – meist die Aufgabe meine Mutter, die nicht berufstätig war – ein Ort, wo meinen wilden Erlebnissen zugehört wurde, aber gleichzeitig die Begrenzungen klar waren wie die Mauern einer Festung, vorhanden – ohne jedes Hinterfragen. Heimat auf dem Land war so ganzheitlich, meine Phantasie befeuernd ins Grenzenlose, Heimat war für mich gleichzeitig Geborgenheit, Begrenzung, Schutz und Hilfe in der Familie, und als ich meinem „Heimatkosmos“ wegen eines Umzuges mit elf verlassen musste, trauerte ich ungefähr ein Jahr diesem „Himmel auf Erden“ nach. 

Meine Kindheitsorte in der Literatur – Germanistikstudium

Im Germanistikstudium wurde mein Heimatglück „Eppingen“ nochmals bedeutsam, ganz viele Orte der Literatur spielten in Eppingen und seiner Umgebung. Meine Kindheit war so tief in mir verwurzelt, dass sie Raum, fast schon „Weltraum“ für die gesamte Literatur bot. Teilweise konnte ich genau sagen, an welchem Ort, vor welchem Haus der Roman, die Novelle oder das Gedicht spielt. Das kleine Eppingen – es hatte in meiner Kindheit um die fünftausend Einwohner – wurde in mir zu einem gigantischen Literaturkosmos, in den ich fast alles einpflanzen konnte – unabhängig von einer Realität, ganz zu schweigen von der heutigen.

Heimat im Elternhaus und Heimatlosigkeit heute

Heimat war aber auch meine Familie, die mich lehrte, einen Ort über Jahrzehnte im Leben gehabt zu haben, an dem mir zugehört wurde in Ruhe, voller Interesse, voller Liebe und, wenn es galt, voll entschlossener Unterstützung. Meine in mir verwurzelte Heimat macht mich heimatlos in einer Welt, die kein Zuhören mehr kennt, dafür in einer handyzerfetzten Zeit vor sich hin hechelt, optional dahinvegetiert in der Angst, etwas zu verpassen, während ich durch meinen Vater auf klare Entscheidungen getrimmt wurde, die in Konsequenz – meist ohne jeden Zweifel und ohne ständiges Hinterfragen – bis heute gelebt und durchgezogen werden. Leben als Tun, als Tat, als Entschlossenheit – voller Phantasie, voller Kreativität, voller Einfälle – voll Glück, Begeisterung und einem sofortigen Anpacken! Unzeitgemäßer geht es kaum noch!

Kinderheimat und Pensionärsheimat: Litzirüti

Heimat ist in mir, in meinem Zauberreich, das ich groß denke, träume, phantasiere. Und ich begegne als Pensionär der Heimat meiner Kindertage wieder. Mit Schwester und Schwager zusammen habe ich eine Wohnung in Litzirüti, 3,5 km unterhalb von Arosa in Graubünden/Schweiz. Land pur, um die siebzig Einwohner, auf 1.500 Höhe. Was macht nun Litzirüti zu meiner zweiten Heimat? Ich lebe im Gleichklang der Züge – direkt vor unserer Terrasse. Kurz vor jeder Stunde begegnen sich auf die Minute genau die Züge von unten und oben, wie der Glockenschlag einer Kirchturmuhr. Und dieser Glockenschlag ist eine Minute Stimmengewirr, Aus- und Einsteigen, ein Pfiff, die Bremsen lösen sich und nach links und rechts enteilen die Züge – und dann wieder tiefe Stille. Der stets gleiche Blick von der Terrasse auf die große Wiese. Dort: das Holzhaus, der alte Stall, der Wald und dahinter die steil aufragenden Felsen und Gipfel und ganz wichtig – die Stille, die wie Atemluft den ganzen Körper erfüllt, ihn mit Phantasie und tausend Ideen durchdringt, die zu Taten reifen, konkret in der Auseinandersetzung mit der Abi-Pflichtlektüre, die im Lesen immer stärker in mir zur Realität wird, stärker als die meiste Realität von außen. In dieser Realität von innen reise ich in und durch Literaturwelten, verfasse Texte und gestalte Manuskripte für meine Sendungen – wie im Moment zu Erpenbecks „Heimsuchung“.

Heimat heute ist Heimat in mir: In Zufriedenheit und Dankbarkeit das tun, was ich gut kann und mich erfüllt – mir zur Freude, anderen zur Hilfe.

Artikel und Fotos: Klaus Schenck

Drei Antworten auf Heimat – aus Deutschland und der Schweiz (Graubünden):

Inhalt in Briefform (~ 1 Textseite): https://www.schuelerzeitung-tbb.de/jenny-erpenbeck-heimsuchung-inhalt-in-briefform/

Interpretation in Briefform (~ 1 Textseite): https://www.schuelerzeitung-tbb.de/jenny-erpenbeck-heimsuchung-interpretation-in-briefform/

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Klaus Schenck, OSR. a.D.
Fächer: Deutsch, Religion, Psychologie
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„Vom Engagement-Lehrer zum Lehrer-Zombie“/Bange-Verlag 2020:
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Über den Autor

Klaus Schenck unterrichtete die Fächer "Deutsch", "Religion" und "Psychologie". Er hatte 2003/04 die Schülerzeitung "Financial T('a)ime" (FT) zunächst als Printausgabe ins Leben gerufen, dann 2008 die FT-Homepage, zwei Jahre später die FT-Sendungen auf YouTube (www.youtube.com/user/financialtaime) , zusätzlich ist noch seine Deutsch-Homepage (www.KlausSchenck.de) integriert, sodass dieses "Gesamtpaket" bis heute täglich auf rund 1.500 User kommt. Mit der "FT-Abi-Plattform" wurde ab 2014 das Profil für Oberstufen-Material - über die Schülerzeitung hinaus - geschärft, ab August 2016 ist wieder alles in einer Hand, wobei Klaus Schenck weiterhin die Gewichtung auf Schulmaterial beibehält und die Internet-Schülerzeitung (FT-Internet) bewusst auch für andere Interessierte öffnet.

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