Joseph von Eichendorff: „Das Marmorbild“ – Interpretation in Briefform

Liebe Schülerinnen und Schüler,

ich gehe jetzt mal davon aus, dass ihr den Inhalt halbwegs im Griff habt, sonst hat die Interpretation natürlich keinen Sinn. Ihr werdet euch nun fragen, was gibt es da zu interpretieren, alles ist doch so langweilig klar. Urteilt nicht vorschnell! Aus der Sekundärliteratur nehme ich fünf Interpretationsansätze und beschreibe ausführlicher den psychoanalytischen und den gendertheoretischen Ansatz.

Der literaturgeschichtliche Ansatz untersucht das Verhältnis von Epoche und Werk. Die Romantik betont stark das deutsche Mittelalter mit der christlichen Religion gegen das antike Heidentum. Auch die Übergänge zwischen Realität und Fantasie/Traum sind irritierend fließend, klar jedoch ist der Gegensatz von Tag und Nacht, der hier bei Eichendorff nicht dem romantischen Schema der Hochschätzung der Nacht folgt, sondern der Nacht wird die Verführung zugeordnet, die Klarheit, dank christlicher Entscheidung, dem Tag.

Nun zum poetologischen Ansatz, nämlich der Gattungsfrage: Novelle oder Märchen oder beides? Kurz, eher Novelle, aber das könnt ihr dann schematisch im Unterricht auflisten. Interessant ist der Einbruch einer Parallelwelt in die reale Welt, was natürlich keinem Märchen entspricht. Bei der religiösen Interpretation steht das antithetische Verhältnis von Heidentum und Christentum im Zentrum.

Wir kommen zur psychoanalytischen Interpretation, die mir am stärksten einleuchtet. Ansatz ist das Instanzenmodell von Sigmund Freud: Ich, Es und Über-Ich. Das Ich steht für Florio, der zwischen beiden anderen Instanzen hin- und hergerissen ist und beiden gerecht werden möchte, was nicht geht. Hier die klaren Antipoden: Fortunato und Bianka für das Über-Ich, also die moralische Instanz, und Venus/Donati für die triebhafte Seite, hier die sexuellen Wünsche. Das moralisch Gute – also Über-Ich – am Tag, alles Triebgesteuerte in der Nacht. Der Ort Lucca steht für das Es, denn hier sucht Florio verzweifelt seine Schöne, die heidnische Venus. Er verlässt Lucca, als er wieder die Kontrolle über sich erlangte, als er sich fürs Über-Ich/das Gottvertrauen klar entschieden hat. Genau in diesem Moment trifft er auf die drei Vertreter des Über-Ichs: Fortunato, Pietro und Bianka und erkennt dank seiner getroffenen Entscheidung die Persönlichkeit, jenseits der Sexualität, von Bianka.

Auffallend ist, wie die Natur zu einem Spiegel von Florios Seelenverfasstheit wird. Seele und beschriebene Natur bilden eine Einheit, der subjektive Blick auf die Natur bestimmt sie, nicht das objektiv Sichtbare. Dazu kommen noch Florios Erinnerungen an seine Kindheit, in deren Tiefe bereits Abbildungen der schönen Venus und von Lucca „… an schwülen Nachmittagen in dem einsamen Lusthause unseres Gartens“ vorgeprägt sind, und nun wird dies alles lebendig um ihn herum. Die Venus erklärt dies als regressive Vergegenwärtigung (regressiv = Rückfall in bereits durchlebte Phasen), denn in allen Jugendträumen blühe das Bild von ihr auf, bei dem sich jedoch Florio jetzt nicht aufhalten solle. Die erotische Verlockung der noch wenig bekleideten Venus oder das Erwachsenwerden in der eigenständigen Entscheidung für das bürgerliche Ideal der Gesellschaft, wie es der klassische Bildungsroman in der Adoleszenz-Krise fordert, zwischen dieser Entscheidung steht Florio und er entscheidet sich fürs Über-Ich und damit für Bianka.

Und damit sind wir beim gendertheoretischen Ansatz, hierbei geht es um die Bewertung von Weiblichkeit und Männlichkeit. Bei den Frauengestalten haben wir die „Femme fragile“, die unschuldige, verletzliche, sexuell nicht bedrohliche Kindfrau Bianka, und die „Femme fatale“, die verführerische, Männer verderbende/mordende Frau, die die Männer bei ihren regressiven Leidenschaften aus der Kindheit abholt. Florios Prozess des Erwachsenwerdens besteht nun darin, sich von der regressiven Sehnsucht aus Kindertagen nach der Venus zu lösen und sich Bianka als eigenständiger Person – nicht als Projektion seiner Gelüste – zuzuwenden. Jetzt erst erkennt Florio Biankas Seelengröße und damit ihre wahre Schönheit und öffnet sich für die romantische Liebe, bei der sich zwei Personen in Liebe gegenseitig zuwenden. „Und so zogen die Glücklichen fröhlich durch die überglänzten Auen in das blühende Mailand hinunter“, womit die Novelle endet.

Nehmt die Interpretation der Novelle als Spiegel, auch eure Entwicklung auf dem Weg zum Erwachsenwerden kritisch zu hinterfragen, dann wird aus Schullektüre Eigeninterpretation und aus „Deutsch“ Seelenforschung!

Klaus Schenck

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Über den Autor

Klaus Schenck unterrichtete die Fächer "Deutsch", "Religion" und "Psychologie". Er hatte 2003/04 die Schülerzeitung "Financial T('a)ime" (FT) zunächst als Printausgabe ins Leben gerufen, dann 2008 die FT-Homepage, zwei Jahre später die FT-Sendungen auf YouTube (www.youtube.com/user/financialtaime) , zusätzlich ist noch seine Deutsch-Homepage (www.KlausSchenck.de) integriert, sodass dieses "Gesamtpaket" bis heute täglich auf rund 1.500 User kommt. Mit der "FT-Abi-Plattform" wurde ab 2014 das Profil für Oberstufen-Material - über die Schülerzeitung hinaus - geschärft, ab August 2016 ist wieder alles in einer Hand, wobei Klaus Schenck weiterhin die Gewichtung auf Schulmaterial beibehält und die Internet-Schülerzeitung (FT-Internet) bewusst auch für andere Interessierte öffnet.

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