Kafka: „Der Verschollene“, Brief an Karl

Lieber Karl,

woher nimmst du deine unerschütterliche Zuversicht trotz aller Erfahrungen, trotz allen Scheiterns, an dich, deinen Erfolg, an deine Selbstwirksamkeit zu glauben, woher deine Resilienz, die brutalen, ungerechten, gezielten Verletzungen und Demütigungen zu ertragen, wegzustecken und dir nahezu unverändert in deinem Selbstvertrauen treu zu bleiben – ohne einen Hauch von Zweifel, gar von Verzweiflung, kein klagender Blick zurück? Du lässt dich auf immer neue Lebensstationen in der heiteren Zuversicht ein, durch eigenes Tun, durch persönliches Engagement, durch anpackenden Fleiß das Schicksal zu deinen Gunsten zu wenden. Viele sagen, du seist ein „tumber Tor“, unbelehrbar vom Leben, zu keiner Reflexion in der Lage, unfähig, aus Niederlagen zu lernen, zu Zielen zu reifen, zur Persönlichkeit zu werden. Aber was hättest du denn lernen sollen? „Der Mensch ist von Natur aus böse!“ „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf – homo homini lupus!“ Hätte diese Erkenntnis dich zum klugen Wesen gemacht, das nun weiß, wohin die Lebensreise geht und das dann als gereifte Persönlichkeit auch ankommt? Was hättest du denn anders machen sollen, als an jedem neuen Ort die Wende zum Guten durch eigenes Engagement und in Treue zu dir selbst zu schaffen? Alternative: Resignation als Lösung, Verzweiflung als Konsequenz, Selbstmord als Tat? Nein, du hast nicht reflektiert, nicht die gesellschaftlichen Strukturen durchschaut, du hast ganz einfach vertraut, dir vertraut, dem Leben vertraut, dich heiteren Sinnes in deinen Abgrund hinein engagiert. Der Taugenichts nach Eichendorff tut nichts und bekommt alles – zum Nulltarif, am Ende sogar die ersehnte Braut – romantischer Lebensdusel eines Taugenichts, der doch viel eher ein Dussel ist – anders als du! Du bist nicht erfolgsversessen wie dein Onkel, du willst einfach nur das Richtige, das Notwendige, das dir gemäß Anständige in jeder Situation tun, nicht das strategisch Kluge, das taktisch Raffinierte, das planvoll Effiziente. Du bist einer, der immer wieder aufsteht, immer und immer wieder, ich bewundere deine Kraft, deine Zuversicht und deinen heiteren Optimismus – sogar ganz am Ende auf der Zugfahrt nach Oklahoma. Du bist naiv wie ein Kind und zugleich stark wie ein Mann!

Du wirst möglicherweise scheitern, aber du zerbrichst nicht, du hast – den Niederlagen zum Trotz – nicht deine Werte verraten, es sind die deiner Kindheit: sich für andere einzusetzen – für den Heizer, Therese, das Nobel-Hotel und letztendlich auch für eine Brunelda, du bist als Einziger geblieben, du hast sie an den Ort geschoben, an dem sie geschätzt wird – der Ort mag sein, wie er will. Es sind europäische Werte, alte Werte, traditionelle Werte. Du bist an der Wertlosigkeit der neuen Welt gescheitert, an Menschen ohne Werte, du bist zu wert-voll für die Wert-losen. Dies macht dich zur lächerlichen Figur, zu ihrem Spielball, aber letztendlich hast du dein Lebensspiel in Treue zu deinen Werten vor dir (!) siegreich gespielt. So kannst du in Einklang mit dir – authentisch – immer wieder aufstehen, aufstehen nicht gegen eine böse Welt, sondern in einer bösen Welt, ohne selbst böse, verbittert und voll Hass zu werden.

Und genau das bewundere ich an dir!

Klaus Schenck

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Inhalt/KURZGEFASST (15 Minuten): https://www.youtube.com/watch?v=KoBDPqRojAA 

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Klaus Schenck, OSR. a.D.
Fächer: Deutsch, Religion, Psychologie
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„Vom Engagement-Lehrer zum Lehrer-Zombie“/Bange-Verlag 2020:
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Über den Autor

Klaus Schenck unterrichtete die Fächer "Deutsch", "Religion" und "Psychologie". Er hatte 2003/04 die Schülerzeitung "Financial T('a)ime" (FT) zunächst als Printausgabe ins Leben gerufen, dann 2008 die FT-Homepage, zwei Jahre später die FT-Sendungen auf YouTube (www.youtube.com/user/financialtaime) , zusätzlich ist noch seine Deutsch-Homepage (www.KlausSchenck.de) integriert, sodass dieses "Gesamtpaket" bis heute täglich auf rund 1.500 User kommt. Mit der "FT-Abi-Plattform" wurde ab 2014 das Profil für Oberstufen-Material - über die Schülerzeitung hinaus - geschärft, ab August 2016 ist wieder alles in einer Hand, wobei Klaus Schenck weiterhin die Gewichtung auf Schulmaterial beibehält und die Internet-Schülerzeitung (FT-Internet) bewusst auch für andere Interessierte öffnet.

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