Kafka: „Der Verschollene“, Interpretation in Briefform

Liebe Schülerinnen und Schüler,

Franz Kafka, der brillante Jurist, promoviert, hochanerkannt an seinem Arbeitsplatz, einer Versicherung, ständig befördert, Franz Kafka, das „ewige“ Kind, das auch noch als Erwachsener fürchtet, vom „allmächtig“ großen Vater vor die Wohnungstür geschleppt zu werden, von einem Vater, dessen Urteil vernichtet, von einem Vater, der seinen Sohn – einen Minderwertigkeitsgefühl- und Schuldkomplex-Verkrüppelten – zusätzlich noch jeden Selbstvertrauens beraubt. Dieser Sohn nun bettelt ständig, von der übermächtigen Vaterfigur anerkannt zu werden, und sucht doch gleichzeitig eine Welt, die noch nicht von dieser erdrückenden Vatergestalt in Besitz genommen ist, und diese Welt ist das Schreiben, Kafkas Emanzipationsakt und gleichzeitig der Ort, an dem die Protagonisten hingerichtet, vernichtet und abgeschlachtet werden. Kafka versucht dichtend der Tyrannei seines Vaters zu entkommen und gleichzeitig ähnelt in Kafkas Werken dieses allgegenwärtige Urteil des Vaters einer „Blutspur“ – siehe Josef K. in „Der Proceß“. Schuldlos und doch ständig schuldig, so Kafkas Figuren, so Karl in „Der Verschollene“.

Der Protagonist wird als 14-, 15-Jähriger von der Köchin in ihr Bett gezerrt und für das daraus entstandene „Produkt“ nach Amerika verbannt. Karl, der Musterknabe, will in tiefer Hingabe alles für seinen Onkel richtig machen und wird für nichts von diesem durch einen Brief wie ein Hund auf der nächtlichen Landstraße ausgesetzt. Ein krimineller „Suffkopf“ bringt den Super-Liftjungen gezielt um seine Stellung im noblen Hotel und um seine Papiere. Und der Abstieg geht weiter: als in Sklavenstellung Geprügelter in der verkommenen Brunelda Gemeinschaft, vielleicht als Laufbursche im Bordell und am Ende als identitätsloser „Negro“ im Theater von Oklahoma. Und Karl ist und bleibt der Musterknabe, der – wo auch immer – in Fleiß, Disziplin und Hingabe seine Aufgaben erfüllt und der stets in blinder Zuversicht an die Verwirklichung des amerikanischen Traumes glaubt. Es ist das permanente Scheitern des guten Willens, es ist der stete Abstieg eines jungen Menschen, den mächtige Vaterfiguren – fast schon wolllüstig – vernichten. Franz Kafka überlegt, wie mehrere seiner Verwandten zuvor, nach Amerika auszuwandern, wieder eine Form des Fluchtversuches. Kafka spielt in Karl durch, wie es seiner Ansicht nach laufen könnte, und er bleibt gleichzeitig das stets vom eigenen Vater zum Scheitern verurteilte Kind – und genau dies spiegelt sich auch in Karl wider. Dieser tut alles, um in seinen unterschiedlichen Positionen durch Leistung anerkannt zu werden und muss am Ende all diese Gemeinschaften als schuldlos Schuldiger gedemütigt verlassen. Selbst Amerika, Kafkas Auswanderungs-Sehnsucht, funktioniert nach den Gesetzen seines „allmächtigen“ Vaters, ein Entkommen unmöglich, der Vater ist quer über die Erdkarte ausgestreckt („Brief an den Vater“), dem Sohn bleiben „nicht sehr trostreiche Gegenden“, zu denen Amerika nicht gehört. Karl wird dort als „Negro“ enden und Franz Kafka erst gar nicht den Versuch der Auswanderung wagen. Er hat in Karl seine Flucht durchgespielt und sein eigenes Scheitern vorweggenommen, so wird Kafka nahezu sein ganzes Leben in seiner Familie – bei seinen Eltern und für wenige Jahre bei seinen Schwestern – wohnen bleiben, ohne je eigenständig zu werden, ohne je sich abnabeln zu können.

Das war ganz kurz mein interpretatorischer Ansatz, sucht – zusammen mit eurem Deutschlehrer – euren Ansatz. Meiner ist nur eine Möglichkeit von vielen, aber das macht Werk-Interpretationen der Moderne so spannend, herausfordernd und gleichzeitig so schwierig.

Ohne euch, ohne euer Suchen geht es nicht, aber dieses Suchen kann zu einem Finden werden – von euch und von eurer Sicht auf „Der Verschollene“! Lasst euch darauf ein!

Links zu YouTube-Sendungen

Inhalt/KURZGEFASST (14 Minuten): https://www.youtube.com/watch?v=KoBDPqRojAA 

 Links zu Materialien, Manuskripten und „Briefen“

Materialien für Lehrer und Schüler

Klaus Schenck, OSR. a.D.
Fächer: Deutsch, Religion, Psychologie
Drei Internet-Kanäle:
Schul-Material: www.KlausSchenck.de
Schüler-Artikel: www.schuelerzeitung-tbb.de
Schul-Sendungen: www.youtube.com/user/financialtaime
Trailer: Auf YouTube ansehen
„Vom Engagement-Lehrer zum Lehrer-Zombie“/Bange-Verlag 2020:
Info-Flyer: Download

Über den Autor

Klaus Schenck unterrichtete die Fächer "Deutsch", "Religion" und "Psychologie". Er hatte 2003/04 die Schülerzeitung "Financial T('a)ime" (FT) zunächst als Printausgabe ins Leben gerufen, dann 2008 die FT-Homepage, zwei Jahre später die FT-Sendungen auf YouTube (www.youtube.com/user/financialtaime) , zusätzlich ist noch seine Deutsch-Homepage (www.KlausSchenck.de) integriert, sodass dieses "Gesamtpaket" bis heute täglich auf rund 1.500 User kommt. Mit der "FT-Abi-Plattform" wurde ab 2014 das Profil für Oberstufen-Material - über die Schülerzeitung hinaus - geschärft, ab August 2016 ist wieder alles in einer Hand, wobei Klaus Schenck weiterhin die Gewichtung auf Schulmaterial beibehält und die Internet-Schülerzeitung (FT-Internet) bewusst auch für andere Interessierte öffnet.

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