Abseits der Planche
Immer wieder in den Medien, ist es nicht schwer etwas über Matthias Behr zu erfahren: die zahlreichen Fechterfolge, der tödliche Unfall, die berufliche Karriere im Fechten, die Differenzen mit Emil Beck. All das verschafft uns das Bild eines ehrgeizigen Sportlers, der sein Leben dem Fechten gewidmet hat. Jedoch ist das nur das schimmernde Blau an der Oberfläche eines Gewässers, das in seinen Tiefen buntes Leben birgt. Im Interview mit Matthias Behr habe ich mich auf eine Expedition begeben, um diese Unterwasserwelt zu entdecken – Wer ist der Mensch hinter den Schlagzeilen? Wer ist Matthias Behr?
FT: Wenn man Ihren Namen googelt, findet man zahlreiche Artikel über Sie und sogar einen Wikipediaeintrag. Sie waren ein sehr erfolgreicher Fechter und sind jetzt Internatsleiter. Wie sind Sie zum Fechten gekommen?
Matthias Behr: Das ist in Tauberbischofsheim natürlich keine schwierige Sache. Zu der Zeit war das hier alles im Aufbau. Dazu kam, dass meine beiden großen Brüder schon bei Emil Beck aktiv waren. Bei mir gab es eine ganz lustige Episode, die später auch mit folgender Überschrift in der Bildzeitung stand: Und zwar hieß es „Mit einer Ohrfeige fing alles an“. Als ich meinen großen Brüdern, die 6 und 7 Jahre älter sind, beim Fechten zugeschaut habe, hat Emil Beck mich gefragt „Wer bist du denn?“, worauf ich geantwortet habe: „Ich bin der kleine Bruder. Ich möchte da zugucken“. Und dann hat er mir keine richtige Ohrfeige gegeben, aber eben über die Wange gestrichen und gefragt: „Was? Du bist der kleine Bruder und bist noch nicht im Fechten?! Am Dienstag bist du da!“ Ich hatte Angst, Respekt… Ich bin ohne Vater groß geworden, da mein Vater durch einen Autounfall gestorben ist, als ich vier Jahre alt war. Wenn dann so eine laute Stimme… Emil Beck war ja immer ziemlich dominant in dem, was er gesagt und getan hat. Dann war ich halt dienstags beim Training. Danach hat sich das dann alles so entwickelt über die Jahre hinweg. Ich habe 25 Jahre Leistungssport betrieben, habe für heutige Verhältnisse relativ spät angefangen, mit elf Jahren und habe dann mit 36 Jahren aufgehört. Das Fechten ist dann letztendlich mein Leben, mein Lebensinhalt geworden.
FT: Sie haben Olympia gewonnen, waren Weltmeister. Wie schafft man es so erfolgreich zu werden? Was muss man alles in den Sport rein stecken, um so weit zu kommen?
Matthias Behr: In den Anfängen in Tauberbischofsheim ist der Trainer entscheidend. Emil Beck war besessen vom Fechten und vom Trainerberuf. Er hat ursprünglich Friseur gelernt, hat sich dann aber vom Fechten begeistern lassen und hat diese Begeisterung auf uns Athleten übertragen. Er hat seine eigene Fechtschule kreiert. Das Fechten war früher eine Sache der Franzosen, der Ungarn, der Russen und der Italiener. Da gab es klassische Fechtschulen. Er hat eine eigene Fechtschule kreiert, wo er das Temperament und auch den Eigensinn des Deutschen, wie er ihn charakterisiert hat, in seine Aktionen mit rein gegeben hat und das hat er auf uns Athleten übertragen. Das ging von einer Deutschen Meisterschaft weiter in den internationalen Bereich und letztendlich war meine erste Aktivenweltmeisterschaft 1973. Da sind wir gleich Vizeweltmeister geworden und er hat mit einer Degenmannschaft die Goldmedaille gewonnen. Und so ging das eigentlich auch über die Jahre hinweg und hat sich dann immer auf die nächsten Generationen übertragen.
FT: So viel Erfolg bedeutet natürlich, dass man sehr viel Zeit investieren muss. Sie waren auch auf dem Wirtschaftsgymnasium, also auf der Kaufmännischen Schule in Tauberbischofsheim. Wie schafft man es die Schule und das Fechten zu vereinbaren?
Matthias Behr: Bei uns war es eigentlich noch schlimmer als es heute ist, weil wir hatten samstags noch sechs Stunden Unterricht, dafür aber nachmittags nichts. Ich denke, die Stundenanzahl und der Inhalt waren sicherlich ähnlich. Ich weiß noch, in einem Schuljahr oder einem Halbjahr hatte ich, glaube ich, 22 Fehltage, wegen der Wettkämpfe. Freitags war Anreise, samstags war dann Wettkampf, egal ob Paris, Budapest – egal wo. Wir sind ja alles mit dem Auto gefahren und haben da viel Zeit investiert. Das war schon eine extreme Doppelbelastung. Das sehen viele nicht, welchen Aufwand ein Leistungssportler betreibt. Auf der einen Seite kann er davon nicht reich werden, also gerade im Fechten. Er hat einfach den Idealismus, den Wunsch, erfolgreich zu sein, Medaillen zu gewinnen, international bei Olympia dabei zu sein… Er muss aber parallel dazu auch seine schulische Leistung abliefern. Er kriegt da nichts geschenkt, muss vieles nachholen. Da hat Emil Beck – das war eine der besten Ideen und das habe ich auch selbst schon genossen damals – diese Idee mit dem Teilinternat gehabt, das heißt, dass wir in der Doppelbelastung parallel zum Leistungssport schulische Hilfen hatten – hier. Wir haben hier ein Lehrerteam. Das gibt Hilfestellungen für das, was man an Unterricht versäumt hat, oder das, was zu lernen ist, ohne dass man es lange selbst erarbeiten muss. Man wird quasi immer wieder ein bisschen angeschupst, um letztendlich schneller zum Ziel zu kommen und dann auch wieder Zeit für das Training zu haben. In meinen intensiven Fechtphasen war ich 40 Wochenenden unterwegs. Das heißt zum einen selbst aktiv, zum anderen als Betreuer mit dabei. Für die Aktiven ist es ja auch so, während manch anderer, der irgendeine Sportart als Hobby betreibt, das Wochenende frei hat oder erst nachmittags in Fußballspiele oder Begegnungen geht, hat der Leistungssportler entweder Wettkampf oder Training. Das heißt, er muss Disziplin haben. Er kann Samstagsabends nicht wie die Klassenkameraden in die Disco gehen oder sich sonst bei Freunden treffen. Nur wer die Disziplin hat, wird auch oben ankommen und das ist für viele nicht einfach. Das muss man schon wissen, dass man da auf Einiges verzichtet. Wobei ich glaube, im Rückblick wird jeder Leistungssportler, wie auch ich, sagen, man möchte die Zeit nicht missen. Ich bin auf der anderen Seite dadurch schon in über 30 Ländern der Erde gewesen. Das hätte meine Mutter, alleinstehend, mir nie geben können: was ich gesehen habe, was ich erlebt habe und wie man durch den Sport letztendlich auch geprägt wird.
FT: Sie haben gerade gesagt, man hat kaum Zeit auszugehen. Ich sehe es auch an meinen Klassenkameraden, die fechten, dass sie wenig Freizeit haben. Wie schwer fällt es, seine Mitschüler zu sehen, die feiern und mittags im Schwimmbad sind, die einfach viel mehr Freizeit haben?
Matthias Behr: Mit Sicherheit ist das immer wieder mal ein Knackpunkt und es gibt auch immer wieder Aussteiger, die sagen, warum mache ich das eigentlich. Ich denke aber, so lange man Erfolg hat und das Ziel klar vor Augen ist, wird das immer überwiegen. Wenn du etwas gut kannst und dabei erfolgreich bist, die Chancen hast dich international zu zeigen und dann vielleicht zu Europameisterschaften, Weltmeisterschaften oder sogar perspektivisch auch mal zu den Olympischen Spielen zu kommen, dann kann man letztendlich auch wieder auf vieles andere verzichten. Das ist der Preis. Ich denke, wer ein richtiger Fechter ist, der kann beides. Der kann auch mal nachts weggehen. Der darf auch mal das Leben besonders genießen. Er muss aber auch die Disziplin haben, das wieder wegzustecken. Auf Dauer gesehen ist natürlich klar, dass er vor Wettkämpfen schon ein bisschen, sagen wir mal, „gediegen“ sein muss.
FT: Erfolg zu haben bedeutet gleichzeitig, dass hohe Erwartungen in einen gesteckt werden. Wie gingen Sie als aktiver Sportler mit diesen Erwartungen um?
Matthias Behr: Die Erwartungen aus dem Umfeld haben mich nicht belastet. Für mich war immer EIN Gegner mir gegenüber und wir waren bei Wettkämpfen 300 Fechter am Start. Da war ich immer nur froh, dass ich nicht gegen alle 300 fechten musste. Man muss das immer positiv sehen. Klar, gibt es auch immer viele Angstgegner, aber du hast in einer Runde so und so viele Gegner gehabt oder heute in der Direktausscheidung einen Gegner und da steht es bei Beginn 0:0! Klar, du willst gewinnen und der andere will auch gewinnen. Dann ist es wie ein Schachspiel, wo man einfach cleverer sein muss als der Gegner. Und es ist erforderlich, in einer absolut guten körperlichen Verfassung zu sein. Das heißt, das Training in der Vorbereitung muss intensiv und qualitativ gut gewesen sein. Um auf den Druck einzugehen: Wenn ich ein Heimspiel habe, das heißt eine Veranstaltung hier, z.B. eine Deutsche Meisterschaft in Tauberbischofsheim, wo die ganze Verwandtschaft da steht – also mich hat das immer eher beflügelt, wenn Leute sich für meinem Wettkampf interessiert haben. Wenn die mir nahe standen, dann hat der Blickkontakt schon gereicht und die Anwesenheit war für mich stimulierend. Das ist nicht für jeden so! Es gibt auch welche, die sagen Oma, Tante, Hund und Katze und hin und her will ich alle nicht in meiner Nähe habe. Ich will mich voll auf den Wettkampf konzentrieren und ihr stört mich. Das muss man dann miteinander besprechen. Auf Dauer gesehen, egal welche Probleme man vielleicht in den Wettkampf mitgebracht hat – sagen wir mal eine schlechte Klassenarbeit oder mit der Freundin läuft es nicht so – kann es nicht sein, wenn es 0:0 steht, dass ich schon mit einem Rucksack ins Gefecht gehe oder dass alles schon so arg an einem lastet, sondern man muss sich dann auf den Wettkampf konzentrieren. Das war immer eine meiner Stärken, sich dann ablenken zu können und NUR auf den Wettkampf zu konzentrieren und deswegen hatte ich eigentlich keinen Druck. Ich WOLLTE gut fechten und wenn es an dem Tag nicht so war, war ich natürlich enttäuscht, aber dann gab es auch wieder ein nächstes Mal.
FT: Wenn man sich Ihr Leben so ansieht, sieht man immer wieder, dass das Fechten dominiert. Welche Rolle spielt das Fechten in Ihrem Leben?
Matthias Behr: Das hat sich jetzt seit meinem elften Lebensjahr zu dem absoluten Mittelpunkt meines Lebens entwickelt. Das ist es auch heute noch so. Ich habe vier Kinder insgesamt, drei davon fechten immer noch aktiv. Der Große ist 28 und hat schon bei Weltmeisterschaften Medaillen gewonnen, ist zweimal Europameister geworden und möchte jetzt unbedingt die Chance wahrnehmen sich für Olympia 2012 zu qualifizieren. Die Mädels, die Zwillinge, sind jetzt 12 und werden 13 und gehen auch beide gern zum Fechten. Wobei, klar, wenn man hier arbeitet und die Mutter der Kinder, der Zwillinge, auch erfolgreiche Fechterin war, legt man da auch schon ein bisschen was in die Wiege. Wenn man dann hier arbeitet, dann liegt es auch nahe, dass man dann mal reinschnuppert und wenn es dann Spaß macht… Mein Junge, der hat auch lange Fußball gespielt, und irgendwann hat er dann für sich entschieden, dass ihm die Zweikampfsportart mehr Spaß macht als das Mannschaftliche, wobei er das nebenher in der Freizeit auch noch macht.
Seit 1977 kam dann eben auch noch das Berufliche. Emil Beck hat zu mir gesagt, ich bräuchte dich mal für ein Jahr. Ich wollte eigentlich Betriebswirtschaftslehre studieren. Das hat mir damals gut gefallen. Aber dann war hier diese Stelle vakant und Emil Beck wollte einen Olympiasieger, Weltmeister zunächst einmal in der Vorbildfunktion und auch mit diesem – ja, ich hab‘ ein gewisses organisatorisches Talent und das wollte er in dieser Position haben. Mittlerweile sind aus diesem einem Jahr 32 geworden. Das wurde dann so anerkannt, ich hab‘ die Stelle behalten. Ich hätte noch gern im pädagogischen Bereich über eine Fernuniversität etwas dazu gelernt. Aber im Nachhinein muss ich sagen, das wäre sicherlich alles nur Theorie gewesen. Ich wurde ins kalte Wasser geworfen. Ich wurde letztendlich direkt auf die andere Seite gesetzt. Das wäre genauso, wie wenn Sie jetzt morgen hier anfangen würden. Ich hab mit Kindern angefangen – das waren zunächst 25 – denen musste ich lesen und schreiben lehren. Dass die nach einer viertel Stunde keine Hausaufgaben mehr aufhaben, war klar, aber dann lag es eben an mir sie zu beschäftigen: Arbeitsblätter zu entwickeln, sie abzuhören, Diktate schreiben zu lassen und mit ihnen etwas zu malen. Das machen wir zwar heute nicht mehr – wir fangen im Internat erst ab der fünften Klasse an – aber letztendlich hat das mir in der Entwicklung sehr viel Spaß gemacht mit den Schülern – aber immer einen Schritt weiter zu sein, weil ich das ja schon alles erlebt hatte. Es war eine festgesetzte Lernzeit und wenn einer nach einer halben Stunde gesagt hat, er hat nichts mehr auf, dann wurde er halt beschäftigt. Dann hat er von sich aus irgendwann gesagt, wenn ich sowieso da bleiben muss, dann kann ich auch meine Hausaufgaben fertig machen. Heute funktioniert das so, dass die Schüler alle ihre Klassenarbeitstermine mitteilen, schon Wochen in der Vorbereitung sind. Wir haben Lehrkräfte hier, die mit ihnen arbeiten. Natürlich immer so, wenn der Schüler das will. Wenn er partout das Schlupfloch sucht, dann ist es natürlich bei mittlerweile 80 Schülern sehr, sehr schwierig. Dann kann auch mal einer durchschlupfen. Aber wenn einer das positiv annimmt, wenn er sagt, ich will hier Leistungssport betreiben und habe eine tolle Einrichtung hier, die mir hilft, dass die Hausaufgaben schneller erledigt werden, die die Hausaufgaben nach schaut oder man hat was versäumt, war mal krank, dann wird das alles nachgearbeitet. Das ist das Plus dieser Einrichtung. Ich kann zum einen in der Halle meine Wettkampferfahrung weitergeben und habe auf der anderen Seite auch so viel Pädagogik, um mit den Kindern, den Jugendlichen zu arbeiten. Das hält mich jung, wenn ich hier reinkomme und sie sitzen am Computer oder schauen MTV, Viva… hören Musik, das ist für mich sowieso Lebenselixier. Also ich kenne die Hitparade auf und ab. Freitagabends guck ich immer gern auf Viva die Hitparade… Ich lese gerne, höre gern Musik und versuche Jugendliche zu begeistern. Das macht mir einfach Spaß und das hält einen jung.
FT: Ist es schwer mit einem Leben wie Ihrem, wo das Fechten eine so bedeutende Rolle spielt, es nicht überhand nehmen zu lassen? Hatten Sie manchmal das Gefühl zu viel dem Fechten zu widmen?
Matthias Behr: Ja, die Gefahr bestand schon zwischen durch, vor allem war natürlich mein Trainer, mein Arbeitgeber, mein Lehrmeister Emil Beck und der wollte mich in einer gewissen Phase, sagen wir mal, mit Haut und Haar, das heißt komplett. Ich hatte meine erste Trennung von meiner Frau damals. Sicherlich war auch ein Grund dafür, dass man letztendlich zu stark mit der Arbeit, mit dem Fechten „verheiratet“ war. Auch noch in dieser Phase Arbeit mit nach Hause genommen hat und nicht mehr abschalten konnte. Das ist gefährlich. Als ich das gelernt hab‘, ein bisschen abzuschalten, als ich dann auch, sagen wir mal, mich neu orientiert habe, muss ich sagen, dass ich zum einen gerne zur Arbeit gehe, unheimlich gerne arbeite, aber genauso auch die Freiräume mal genieße. Ich bin um 7:15 am Schreibtisch und gehe meistens nicht vor 18 Uhr nach Hause, weil ich es gerne tue, für die Athleten da bin und weil man immer was zu tun hat. Aber man kann dann mit ruhigem Gewissen nach Hause gehen. Man muss auch sagen können: „Toller Arbeitstag gehabt!“ Man hat was bewegt, mit Jugendlichen gearbeitet. Aber ich hab‘, Gott sei Dank, jetzt den Abstand davon, dass man sagt: „So und jetzt ist Feierabend! Jetzt widme ich mich meiner Familie oder ich schau‘ Fernsehen oder ich lese was oder wir spielen was“, damit man mal abschalten kann. Das Problem hatte ich mal zwischendurch, dass man sich nur noch auf die Arbeit konzentriert. Da gibt es ja diesen Ausspruch, dass man nur noch lebt, um zu arbeiten. Aber ich arbeite, um zu leben. Das ist besser so.
FT: Gab es dann auch Momente, in denen Sie sich überlegt haben sich vom Fechten abzuwenden?
Matthias Behr: Ja, auf alle Fälle. Das war genau in dieser schwierigen Phase. Ich hatte dann auch eine ganz komplizierte Phase mit Emil Beck, die dann auch groß durch die Presse ging. Wo man einfach Meinungsverschiedenheiten hatte. Klar, nachdem ich dann mein Nein sagen musste und Nein gesagt habe, war er als Arbeitgeber mit mir nicht mehr zufrieden. Dann muss man sich natürlich überlegen, ob man sich neu orientiert. Aber wenn man dann so lange mit dem Fechten beschäftigt war, bleiben einen nicht all so viele Alternativen. Ich hab‘ mich schon umgehorcht und sicherlich wäre da und dort auch was passiert, aber das Herz wäre trotzdem hier geblieben, weil es doch zu viel Platz in meinem Leben eingenommen hat. Deswegen bin ich heute auch froh, dass ich für mich meinen Weg gefunden habe. Ich habe immer bedauert, dass es zu dieser Konfliktsituation gekommen ist zwischen Emil Beck und mir. Er hat dies alles aufgebaut und ohne ihn gäb’s Fechten in Tauberbischofsheim nicht. Er ist einfach der Gründungsvater des Ganzen. Wenn man überlegt, dass dieses Zentrum in zehn Bauabschnitten entstanden ist auf Grund der Idee eines Menschen, eines Mannes, der Fechten im Kino in der Wochenschau mal gesehen hat und der dann letztendlich seinen Beruf gewechselt hat, der dann Fechttrainer geworden ist, um Fechten in Tauberbischofsheim groß zu machen, dann ist es natürlich schade, dass am Ende seines beruflichen Lebens irgendwo alles, sagen wir mal, fast tragisch zu Ende ging. Er hat dann zum Schluss dieses Zentrum nicht mehr betreten, obwohl er ja Ehrenbürger der Stadt war. Das war alles schon ein tragisches Ende für mich und das hat natürlich in der Gesamtheit sehr weh getan.
FT: Sie erwähnen immer wieder Emil Beck. Was für eine Rolle hat er für sie gespielt?
Matthias Behr: Das ist eine gut Frage. Ich hab ja gesagt, ich bin ohne Vater groß geworden und er ist, als ich elf Jahre alt war, mit dieser „Ohrfeige“ in mein Leben getreten. Er hat dann natürlich einen festen Platz gehabt. Er hat mich als Trainer zu dem gemacht, was ich dann an sportlichen Leistungen fähig war und er hat mich dann später als Arbeitgeber angestellt. Er war zufrieden mit all dem, was ich getan habe. Also er hat mich geprägt und von daher erwähne ich ihn auch immer sehr gerne. Man hat auch dann überall davon gesprochen – ich weiß nicht, ob das einen negativen Touch hat – dass er mein Ziehvater war. „Ziehvater“, das Wort gefällt mir jetzt nicht so, aber er hat eine gewisse Vaterrolle in meinem Leben übernommen, weil das für meine Mutter mit drei Jungs auch schwierig war. Da hat er sicherlich meiner Mutter auch Entscheidungen abgenommen, um mich auf den richtigen Weg zu halten – und ich war kein Einfacher. Wenn man sich im Grenzbereich aufhält – ich hatte ja lange Haare, wie man das hier in den Gängen sieht. Das war alles eine schöne Zeit, aber es war auch wichtig, dass immer jemand da war, der gesagt hat: „Bis hier her und nicht weiter“. Und diese Rolle hat er übernommen.
FT: Mittlerweile sind Sie Internatsleiter des Olympiastützpunktes. War das Ihr Traumberuf?
Matthias Behr: Wenn man es 32 Jahre mit so viel Spaß betrieben hat – sicherlich gibt es noch andere Berufe, wo man auch seinen Spaß gefunden hätte, aber ich denke, wie ich schon erwähnt habe, dass die Arbeit mit Jugendlichen und dann auch, wenn man später sieht wie man Einfluss genommen hat auf die Entwicklungen, wie man sie geprägt hat, wie ich ja früher auch als Jugendlicher an gewissen Punkten war, ob man rechts oder links gehen soll, dass einem da auch jemanden den Weg gewiesen hat und das spüre ich schon, dass ich das auch immer wieder mache. Das Ergebnis sieht man zwar erst später und du kriegst auch sehr selten nur ein Dankeschön für das, was du tust. Viele merken das gar nicht, wie du sie beeinflussen konntest oder ihnen helfen konntest, aber in der Pädagogik tätig zu sein und in diesem Alter noch so viel Spaß zu haben und ich lebe auch über den Spaß, den Humor mit der Musik und wie auch immer… Also, ich denke, dass hätte ich in manch anderen Berufen nicht so ausleben können. Deswegen kann man schon sagen, dass das mein Traumberuf ist.
FT: Was gehört zu den Aufgaben eines Internatsleiters? Wie kann man sich Ihre Arbeit vorstellen?
Matthias Behr: Ich bin letztendlich das Bindeglied zur reinen Pädagogik, zu meinen Lehrkräften, die das ja auch studiert haben. Jeder hat seine Fächerkombination. Ich hab‘ jemanden für Mathe und Physik, die andere macht Deutsch und Englisch, manche machen die Nebenfächer, der andere kommt nur für Latein hier her. Ich organisiere den ganzen Ablaufplan mit meinem Team zusammen, bin aber gleichzeitig das Bindeglied zum sportlichen Bereich. Ich führe die Elterngespräche, ich habe die Aufnahmegespräche und ich muss in den entscheidenden Momenten diesen Vorhang (er zeigt auf die Fensterscheibe zwischen seinem Büro und einem kleinen Aufenthaltsraum) hoch machen und mit bösem, grimmigem Gesicht nach draußen gucken, wenn die immer noch am Computer sitzen oder Fernsehen gucken während der Lernzeit. Oder ich muss den Finger mal ein bisschen vor und zurück bewegen und muss die unangenehmen Gespräche führen, wenn manche – wir haben ja auch ein Vollinternat mittlerweile – über die Stränge schlagen und die Bettruhe nicht eingehalten haben oder wenn irgendetwas Disziplinarisches anstand und man Verweise aussprechen muss – die unangenehmen Dinge eben, hab‘ ich dann zu machen. Also, ich hab die Gesamtorganisation und hab‘ dazu ein tolles Team an Lehrkräften und natürlich auch im Sportbereich Trainer, mit denen man sich abstimmt. Letztendlich bin ich dann eigentlich Mädchen für alles und sorge mit meinem engagierten Pädagogenteam, dass es funktioniert. Wenn man überlegt, dass man mal mit 25 Kindern im Internat begonnen hat und dann 60, mittlerweile 80 Schüler zu betreuen hat, dann gibt es einfach immer wieder aktuelle Themen. Minimalziel ist immer, dass alle in die nächsthöhere Klasse versetzt werden. Da muss man natürlich auch viel Einfluss nehmen, weil jeder seine pubertäre oder Null-Bock-Phase hat, das muss man erkennen, das muss man sehen und spüren. Dann fehlt manchmal der Erfolg im Fechten, auch diese schwierigen Momente im Leben eines Leistungssportlers erfordern sensible Einflussnahme der Trainer und des Betreuungsteams. Es wird sehr viel besprochen, es wird sehr viel im mentalen Bereich gearbeitet, das muss man einfach spüren!
FT: Wie wichtig sind die Erfahrungen, die Sie im Fechten gemacht haben für die Ausübung Ihres Jobs?
Matthias Behr: Die Erfahrungen kann man natürlich nicht ersetzen. Da kannst du alle Bücher zur Seite legen. Man macht natürlich da und dort auch Fehler. Aber, es heißt ja immer, Fehler kann man überall machen, aber man darf jeden Fehler nur einmal machen. Ich denke, dass ich natürlich – da erwähne ich gerne wieder Emil Beck – dass ich einen großen Lehrmeister hatte, durch den ich vieles, vieles gelernt habe. Aber die Erfahrung im pädagogischen Bereich und dann auch in der Gesamtheit, was man hier zu organisieren und abzustimmen hat und wie man zu motivieren hat, da hat man einen unheimlichen Erfahrungsschatz. Auch wenn ich jetzt erst 54 Jahre alt bin, man kann da schon ganz schön daraus schöpfen, vor allem, wenn man mit so jungen Jahren angefangen hat wie ich. Das ist natürlich ideal. Manche meinen, sie müssen es mit 30 genauso machen, aber jeder muss seine Erfahrungen erst machen und aus der Erfahrung dann seinen Weg finden. Ich hatte, das war für mich wichtig, schon sehr früh auch an der Seite oder im Team von Emil Beck Entscheidungen zu treffen. Wobei mir wichtig war, dass ich diese Entscheidungen dann auch ohne eine dringende Rücksprache getroffen habe. Da waren vielleicht von zehn Entscheidungen eine oder zwei nicht okay. Dann wurde mir das gesagt: „du, das hätte ich anders gemacht…“ oder „das war einfach Mist“, man denkt drüber nach, tauscht sich aus und dann ist man wieder ein Stückchen weiter. Da habe ich sehr viel profitiert, egal ob das das reine Fechten war oder die berufliche Tätigkeit als Internatsleiter.
FT: Was ist das Wichtigste, was Sie Ihren Zöglingen mit auf den Weg geben wollen?
Matthias Behr: Wichtig ist, dass man klare Ziele hat. Die braucht man. Zunächst natürlich erst mal in Teilziele angeordnet, dass der Weg stimmt und dass man dann natürlich auch die Disziplin hat das alles umzusetzen. Letztendlich sollte man nie aufgeben. Egal, wie weit das Ziel noch entfernt ist. Das hab‘ ich beim Fechten gelernt, dass erst wenn der letzte Treffer gefallen ist oder wenn die Zeit abgelaufen ist, das Gefecht zu Ende ist. Das ist bei einer Zweikampfsportart natürlich immer sehr wichtig: Man muss kämpfen, um ein Ziel zu erreichen und, wie gesagt, nie aufgeben. „Geht nicht, gibt’s nicht!“ (an einem Schrank ist ein kleiner Zettel geheftet, der diese Aufschrift trägt) – Das schaue ich mir einmal im Monat an. Es gibt immer eine Lösung für irgendetwas. Ob es dann die Ideallösung ist, das ist etwas anderes. Aber dann zu sagen „Geht halt nicht“, das ist zu einfach. Ich habe auch draußen in meinem Büro noch eins: „Das, was ich will, das schaff ich!“ Das ist auch noch so ein Kernsatz, den ich immer wieder auch Athleten mit auf den Weg gebe. Das geht in jede Richtung, dass man sich ein Ziel setzt und dann auch alles dafür gibt, um es zu erreichen. Wenn es dann mal nicht 100 Prozent werden, dann werden es aber vielleicht 95 oder es geht in den 90 Prozent-Bereich. Aber wenn man es nicht angeht, dann schafft man gar nichts, dann passiert nichts. Und das ist das, wenn viele ihr Leben in die Hände anderer geben oder einfach zu wenig aus ihren Fähigkeiten machen, was ich immer bedauere.
FT: Haben Fechter, die im Fechtinternat sind, Vorteile gegenüber den anderen? Wenn ja, welche?
Matthias Behr: Nein, überhaupt nicht… Wir haben schon die beiden Schienen Hobbyfechten und Leistungsfechten. Das ist ganz klar. Gut, wenn man es jetzt so genau nimmt, dann muss man natürlich sagen, dass der Leistungsfechter, weil er viel mehr trainiert, viel mehr Zeit aufwendet auch für Training, Wettkämpfe, Anreise, Abreise, Budapest in zehn Stunden und, und, und… Dass der dann mehr gefördert wird als der Nichtleistungsfechter, das ist eigentlich normal. Dafür haben wir ja eine offizielle Einrichtung, dafür sind wir auch Olympiastützpunkt, dafür haben wir auch das Internat, das vom Bund, Land und auch von der Stiftung Deutsche Sporthilfe in großem Maße unterstützt wird. Das sind öffentliche Gelder. Man bekennt sich zur Leistung in Deutschland, man unterstützt das. Dann sollen diejenigen, die „Ja“ sagen, auch davon profitieren. Wenn einer das nicht möchte oder nicht mehr möchte, muss es auch niemand, es ist ja freiwillig. Wenn er Leistungssport betreiben will, dann unterstützen wir das gerne und wenn er das nicht mehr möchte, dann wird keine Tür zu gemacht. Dann muss man sagen „hör zu, dann komm halt nur zweimal in der Woche“- das ist in einer Kampfsportart auch sehr wichtig – „dann komm, wenn du Lust hast, klinke dich aus der Leistungssportschiene aus und mache Hobbyfechten.“ Warum soll man alles wegschmeißen, wenn man irgendetwas gut kann, aber man kann dann andere Prioritäten setzen. Wenn einer das nicht mehr möchte, dann ist es seine Entscheidung. Natürlich gibt es auch mal Athleten, bei denen man es besonders bedauert, weil sie ein großes Talent haben. Aber wenn der Kopf nicht stimmt, wenn der nicht „Ja“ zur Leistung sagt, wenn der die Bereitschaft nicht bringt, dann kommt da sowieso nichts mehr!
FT: Zum Schluss noch eine letzte Frage: Können Sie sich ein Leben ohne das Fechten vorstellen?
Matthias Behr: Ja, also mit Sicherheit. Ich werde auch irgendwann pensioniert, in 12 oder 13 Jahren. Klar, wird man mich dann fragen ob, ich Führungen mache im Fechtzentrum oder bei Veranstaltungen noch die Einlasskarten abreiße und den Gästen die Plätze zeige. Ich denke so ganz ohne Fechten, wenn es das Leben so bestimmt hat wie bisher, wird es wahrscheinlich nicht gehen können, weil ja meine Kinder noch mit sehr viel Spaß diese faszinierende Sportart ausüben und man doch irgendwo so verwurzelt ist in der ganzen Einrichtung. Das ist schwer vorstellbar. Interesse für Fechten wird immer da sein. Nur wird man sich sicherlich auch ein bisschen zurücknehmen müssen und die nächste Generation denkt sich: „Ach, was wollen wir denn mit dem Alten da. Jetzt sind wir dran!“ Von daher möchte und werde ich mich sogar zurücknehmen. Aber ganz ohne Fechten glaub ich nicht…
FT: Vielen Dank für das Interview!
Mehr Informationen unter:
http://www.fechtentbb.de/
Interview: Julia Spiesberger
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