Preisübergabe durch Klaus Schenck, Deutschlehrer
… ihre Scheffel-Preis-Rede, diese fasziniert mich, und zwar aus mehreren Gründen.
Zunächst der Titel „Pflichtlektüre als ‚Lebenslektüre‘“, in diesen drei Worten hat Milena Deutsch-Unterricht in seiner Idealität auf den Punkt gebracht: Pflichtlektüre aus vergangenen Zeiten wird in der schulischen Gegenwart über Monate interpretiert, diskutiert, reflektiert und aus dieser Reflexion wird die Pflichtlektüre zur Lebenslektüre junger Menschen für Gegenwart und Zukunft, das wird Ihnen jetzt gleich Milena zeigen.
Mutig, interessant und ehrlich führt Milena in ihre Thematik „Beziehungen“ am Beispiel der konkreten Lehrer-Schüler-Beziehung der zurückliegenden drei Jahre ein, mir imponiert ihre Ehrlichkeit, wie sie diese Beziehung aus ihrer Sicht charakterisiert.
Scheiternde und gelingende Beziehungen aus den Pflichtlektüren stehen im Zentrum und Milena stellt diese Beziehungen auf ihren persönlichen Prüfstein, Literatur von damals für die persönliche Lebenswelt von morgen.
Milenas Rede wird nachdenkenswert, diese Rede verdient Stille, Konzentration und innere Offenheit.
Dir, Milena, viel Erfolg!
Pflichtlektüre als „Lebenslektüre“
Liebe Mitabiturientinnen und Mitabiturienten,
sehr geehrte Schulleitung,
liebe Lehrerinnen und Lehrer,
liebe Eltern und Gäste.
Auch ich begrüße Sie ebenfalls sehr herzlich zu unserem Abiball und zugleich großen Abschluss unserer dreijährigen WG-Zeit.
Ich habe heute die Ehre, die Scheffelpreisrede zu halten. Damit verbinde ich jedoch ehrlich gesagt nicht nur Freude und Stolz, sondern auch Aufregung, Nervosität und Angst, denn offen gestanden, bin ich definitiv nicht der Typ für große Reden vor einem noch größeren Publikum. Wie auch immer – jetzt stehe ich nun hier vor Ihnen, halte meine Rede und versuche mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen.
Zuallererst geht natürlich ein großer Dank an Herrn Schenck, denn ohne Sie und Ihren Deutsch-Unterricht würde ich heute nicht hier oben auf dieser Bühne stehen. Sie haben mich und die gesamte Klasse 13.1 durch Ihren ausgiebigen und bis auf den letzten Punkt durchgeplanten Unterricht auf das Deutschabitur vorbereitet, sodass wir diese große Hürde voller Vertrauen und Zuversicht meistern konnten. Der Scheffelpreis ist deshalb kein Preis, den ich alleine gewonnen habe. Vielmehr ist er eine Belohnung für eine erfolgreiche Lehrer-Schüler-Beziehung. Die Voraussetzung dafür ist das „Ja“ des Schülers. Denn nur dadurch kann ein gemeinsamer Erfolg entstehen. Ich für meinen Teil habe dieses Ja in der 11. Klasse zunächst nicht gegeben und habe den „Schenckianischen Unterricht“ zutiefst abgelehnt, was man auch an dementsprechenden Noten sehen konnte. Doch durch mein „Ja“ zu diesem Unterricht und zu diesem Fachlehrer, welches ich in der 12. Klasse gab, konnte Ihre Arbeit, Herr Schenck, bei mir ankommen und wirken, weshalb mir die Chance ermöglicht wurde, mich im Fach „Deutsch“ zu beweisen, Leistung zu bringen und zu wachsen. Deshalb möchte ich mich bei Ihnen ganz herzlich bedanken!
Nun komme ich von der bereits genannten Lehrer-Schüler-Beziehung zu tieferen Beziehungen, denn auch die drei Pflichtlektüren, „Homo faber“, „Dantons Tod“ und „Agnes“ befassen sich mit Beziehungen solcher Art, weshalb sich meine Rede, die den Titel „Pflichtlektüre als Lebenslektüre“ trägt, mit genau diesem Thema beschäftigt. Aber davor noch kurz: Ich hoffe, es ist für alle Anwesenden in Ordnung, wenn ich für meine Rede die Du-Form verwende, denn, ehrlich gesagt, würde ich mir komisch vorkommen, wenn ich meine Mitschüler und Freunde mit einem „Sie“ anreden müsste.
Ich erläutere nun kurz die Beziehungen in den Lektüren, damit Sie, liebe Eltern und Lehrer, und eventuell auch der ein oder andere Abiturient auch wissen, worum es geht.
Eine der Pflichtlektüren ist „Homo faber“ von Max Frisch. In diesem Roman-Bericht besteht unteranderem eine Beziehung zwischen dem Protagonisten Walter Faber und Sabeth, seiner Tochter, von deren Existenz er jedoch nichts weiß. Durch die Beziehung zu Sabeth verändert sich Faber zu seinem wahren Ich. Der Mann verändert sich durch die Frau und wird letztendlich zu dem, der er eigentlich ist.
Die Liebesbeziehung in dem Drama „Dantons Tod“ von Georg Büchner stellt eine tiefe, fast nicht in Worte zu fassende Liebe zwischen dem Hauptcharakter Danton und seiner Frau Julie dar. Julie nimmt sich für ihren Ehemann das Leben und gibt ihm so die Gewissheit, dass er bei seiner Hinrichtung nicht alleine in den Tod gehen muss.
Die letzte der drei Pflichtlektüren ist der für uns wohl wichtigste Roman, denn er steht uns mit seiner modernen Fassung am nächsten. Es handelt sich hierbei um „Agnes“ von Peter Stamm. Kurz gesagt: In dem Roman führt Agnes eine sehr verschrobene Beziehung zu einem älteren Mann, dem Ich-Erzähler. Zwei Personen suchen eine Beziehung, jedoch ohne die Bereitschaft, sich auf den anderen einzulassen. Das beschreibt die Beziehung in dem Roman wohl sehr treffend, denn der Ich-Erzähler tut alles dafür, um sich nicht verändern zu lassen, wodurch er die Chance verpasst, sich genauso wie Walter Faber selbst zu finden.
Die Herausforderung, die ich aus „Agnes“, aber auch aus den anderen beiden Werken ziehe, lässt sich mit der Frage: „Was bedeutet Beziehung für uns?“ am besten beschreiben.
Können wir etwas aus den Pflichtlektüren lernen? Verhalten wir uns genauso wie die Protagonisten? Können wir uns mit einem der Charaktere identifizieren? All diese Denkimpulse haben für mich aus der Pflichtlektüre eine Lebenslektüre gemacht, denn, wenn man die Bücher nicht einfach nur abarbeitet, sondern hinterfragt oder über das Verhalten der Charaktere nachdenkt, öffnen sie uns neue Ansichten und Dimensionen, sie geben uns Rat fürs Heute und Morgen.
Walter Faber steht in Krisenzeiten zum Bespiel nicht zu seiner ehemaligen Freundin Hanna und lässt diese einfach mit der Schwangerschaft im Stich. Aber ist es nicht genau das, worauf es ankommt? Dass man auch in schweren Zeiten zusammen hält? Man muss sich vertrauen können, zueinander stehen und Verantwortung übernehmen, denn nur so kann der Partner auf einen bauen. Aber auch die Veränderung von Faber durch seine Beziehung zu Sabeth ist von großer Bedeutung. Er zeigt uns, dass wir, wenn wir uns auf unseren Partner einlassen, erfahren, wer wir wirklich sind. Denn Aufgabe einer Beziehung ist Entwicklung. „Werde, der du bist“, dies sagte einmal Carl Gustav Jung. Doch genau diese Chance der Entwicklung ergreift der Ich-Erzähler in dem Roman „Agnes“ nicht. Stattdessen versucht er sich Agnes so zu formen, wie er sie haben möchte. Er macht sie zur Marionette. Ihr Marionettendasein verhindert in ihm, dass er neue Dimensionen seines Ichs kennenlernt. Der Ich-Erzähler ist uns in dieser Hinsicht ein schlechtes Beispiel, denn sollten wir unseren Partner nicht so akzeptieren, wie er ist? Gerade wenn man sehr unterschiedlich ist, kann man sich durch den Austausch der Extreme ergänzen. Wenn wir uns für unseren Partner öffnen, besteht die Möglichkeit, als Team, als Wir, als neue Einheit voranzukommen.
Von der Pflichtlektüre zur Lebenslektüre, zu unserer ganz persönlichen Lektüre für uns, unser Leben, unsere Beziehung: Was fordern wir in einer Beziehung? Welche Erwartungen haben wir? Was ist uns wichtig?
Ich für meinen Teil mag das Gefühl benutzt zu werden überhaupt nicht. Und erst recht nicht in einer Beziehung von meinem eigenen Partner. Aber was heißt „benutzt werden“? Ich denke, ich werde nicht benutzt, wenn ich Dinge aus freiem Willen mache. Aber ab dem Moment, wo ich etwas immer nur für den anderen tue, sollte ich mir Gedanken machen, ob ich nicht gerade benutzt werde. Konkretes Beispiel: Reifen wechseln. Mache ich es freiwillig, weil es mir Spaß macht oder ich meiner Partnerin eine Freude machen möchte, ist das gut. Doch wenn ich es nur noch mache, damit mein Partner zufrieden ist und ich meine Ruhe habe, ist es schlecht, denn nur, wenn aus Benutzen ein freiwilliges Geben wird, kann ein Wir entstehen.
Der Fall des Benutzens spiegelt sich auch in dem Roman „Agnes“ wider, denn der Ich-Erzähler und Agnes benutzen eine Geschichte, die der Ich-Erzähler verfasst, als Drehbuch für ihr Leben und richten sich nach ihr. Genau durch dieses Benutzen nimmt die Beziehung der beiden kein gutes Ende.
Des Weiteren empfinde ich es als unumgänglich, dass ich trotz der Partnerschaft und dem „Wir“ auch die Möglichkeit besitze, eigene Erfahrungen ohne meinen Partner zu erleben. Jeder von euch kennt es wahrscheinlich. Ihr wollt einen netten Abend mit euren Mädels oder Kumpels verbringen und wisst, dass der Partner zwar gerne mitkommen kann, es aber auch mal schön wäre, einen Abend nur mit seinen Freunden zu haben. Ich kenne das zumindest sehr gut. Dass der Freund oder die Freundin dann nicht anfängt zu klammern, zeigt, dass der persönliche Freiraum akzeptiert wird. Denn trotz des Ziels, so viele gemeinsame Erinnerungen wir möglich zu schaffen, sollten wir manche Dinge auch ohne Partner erleben dürfen und trotz der Beziehung sollten Freunde und Familie nicht vernachlässigt werden. Deshalb ist Freiraum, für mich zumindest, eine Notwendigkeit.
Aber wo hört eigentlich die Einheit auf und wo fängt die Individualität an? Ziel ist wohl gleichzeitig gebunden und als Individuum mit eigenen Ansichten frei zu sein. Genau das möchte ich an Walter Faber und Sabeth veranschaulichen. Die beiden spielen in der Lektüre ein Spiel, bei welchem sie Dinge, die sie sehen, mit ihren Worten beschreiben. Ein Pfad zwischen Felsen sieht für Faber aus wie Gips, für Sabeth wie Schnee. Sie einigen sich auf Joghurt. Sie verdeutlichen beide ihre Ansichten, akzeptieren diese und einigen sich auf einen Kompromiss. Dieses Einschwingen auf den anderen und gleichzeitige Existieren der Individualität führt zu einer Beziehung, die Einheit schenkt und einen zugleich als Individuum mit eigenen Ansichten frei lässt.
Ein ebenfalls wichtiger Aspekt ist für mich Vertrauen. Das A&O in einer Beziehung. Das Vertrauen in den Partner sollte für mich so groß sein, dass ich ihm all seine Freiheiten, die er braucht, lassen kann, ohne mich dabei schlecht zu fühlen. Wenn man beispielsweise gegengeschlechtliche Freunde hat, also ich habe männliche Freunde und mein Partner weibliche, dann kann das für den anderen oft nicht immer leicht sein, denn manchmal spielt Eifersucht doch eine große Rolle. Jedoch sollte das Vertrauen in den anderen so groß sein, dass diese Freundschaften akzeptiert werden können, ohne Beweise zu fordern. Denn Vertrauen ist das nicht Beweisbare.
Neben dem nicht Beweisbaren gibt es in Beziehungen auch das nicht Berechenbare, das Gefühlvolle und Empathische. Man wächst zu einer Einheit zusammen und die Bereitschaft für das Interesse am anderen ist dafür die Grundvoraussetzung. Es muss mich interessieren, wie es dem anderen geht, denn geht es dir gut, geht es mir gut.
Aber auch das Nonverbale, das Erfühlen, Erkennen und Erspüren der Gefühlswelt des anderen spielt eine große Rolle. Genau dies kann man deutlich an Danton und Julie festmachen, denn Julie spürt in der Lektüre immer sehr klar, wenn Danton etwas belastet.
Zusammenfassend kann man sich die wichtigsten Aspekte nun wie folgt vorstellen:
- Geben ohne Benutzt-Werden,
- Freiraum als Notwendigkeit,
- Einheit in Individualität,
- Vertrauen in Freiheit
- und Wachsen zur Einheit.
In der Rückschau auf all diese Punkte muss sich jeder von uns selbst fragen, was einem in einer Beziehung wichtig ist und was er aus den Pflichtlektüren lernen kann.
Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre beziehungsweise eure Aufmerksamkeit und wünsche noch einen schönen und unvergesslichen Abend!
Milena Wittmann, Scheffelpreisträgerin 2016
Fotos: Isabella Frank
Materialien für Lehrer und Schüler
- Alle Abi-Materialien auf einen Blick: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/abi-vorbereitung/ und Power-Paket für Abi-Kämpfer: https://www.schuelerzeitung-tbb.de/gesamt-strategie-fuer-abi-kaempfer/
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