Scheffelpreis für Stefanie Geiger – 2015

Preisübergabe durch Klaus Schenck, Deutschlehrer

 … Jetzt noch einige Sätze zu Stefanie:

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Mir bedeutet diesmal der Scheffelpreis ungemein viel, verbinden mich doch mit Stefanie drei Jahre der vielfältigsten Erlebnisse, Erfolge, aber auch Rückschläge. Stefanie war Chefredakteurin der Schülerzeitung, Stefanie war Chefredakteurin der FT-Abi-Plattform. Und ein ähnliches Verhältnis verbindet mich mit den Redaktionsmitgliedern aus der 13.1: Anna Winkler, Vanessa Müller und Tobias Haas. Engagierte Schülerzeitungsarbeit fordert großes Engagement, verlangt stete Präsenz bei vielen Projekten, kostet jede Woche Stunden und schafft eine fast schon ideale Beziehung des Persönlichen, der Nähe, die gleichzeitig mit der Distanz des Fachlehrers verbunden wird. Diese Beziehung von Distanz und Nähe, von Zielorientiertem und Entspanntem scheint mir die Idealform eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses zu sein, was junge Menschen prägt, Selbstvertrauen schenkt und sie als Gereifte, Veränderte die Schule verlassen lässt. Diese vier Abiturienten sind die letzte Redaktion aus meiner Schülerzeitungszeit, was für mich emotional und beruflich einen tiefen Einschnitt darstellt.

Sie sehen einen Mann fotografieren. Das ist Stefanies Vater. Er war schon unser Hof-Fotograf bei meiner großen Abschiedsfeier von der Schülerzeitung vor einem Jahr. Und er übernimmt wieder diese Aufgabe bei der Abi-Rede. Ihnen, lieber Herr Geiger, vielen Dank!

So und nun ist Stefanie an der Reihe:

Dein Deutschlehrer hinter dir, dein Vater fotografierend neben dir, deine Mutter und dein Bruder vor dir, das ist ein Heimspiel und Heimspiele gewinnt man.

Dein Auftritt, Stefanie!

Scheffelpreis-Rede am Abi-Ball von Stefanie Geiger

Liebe Mitabiturientinnen und Mitabiturienten, sehr geehrte Schulleitung, liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Eltern, liebe Gäste! Auch ich möchte Sie herzlich bei der letzten Etappe unserer Schullaufbahn begrüßen.

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Bevor ich mit der Abi-Rede beginne, noch schnell paar Worte zu Deutschunterricht und Schülerzeitung, die uns alle stark verbindet. Nach drei Jahren Deutschunterricht bei Herrn Schenck habe ich es geschafft, halte mein Abi-Zeugnis in Händen und stehe sogar als Scheffelpreisträgerin auf der Bühne. In diesen drei Jahren haben wir in der Schülerzeitung unheimlich viel gemeinsam erlebt, sei es in den Metropolen Amsterdam und Berlin oder einfach nur bei Redaktionssitzungen oder bei gemeinsamen Essen. Auch hier nochmals ein großes Dankeschön an Herrn Schenck, der dies alles ermöglichte! Wir haben gemeinsam Höhen und Tiefen durchlebt, was uns jedoch nur noch stärker zusammengeschweißt hat, wir sind nun alle Freunde geworden. Das Besondere an unseren Treffen war, dass wir uns immer auf Augenhöhe begegneten, egal ob es um Entscheidungen oder Gespräche ging. Mit den drei Jahren der Schülerzeitung geht eine wunderschöne, außergewöhnliche Zeit zu Ende, doch ich werde sie mit Anna, Vanessa, Tobias und Herrn Schenck nie vergessen!

So – und nun zur Scheffelpreis-Rede!

Mir wird heute die Ehre zuteil, die Scheffelpreisrede zu halten. Ich bin ehrlich. Als ich auf unserer Abi-Fahrt abends beim Schminken die SMS meines Deutschlehrers bekam, mit dem Scheffelpreis ausgezeichnet zu werden, folglich auch die Abi-Rede halten zu müssen, da dachte ich nicht an Ehre, sondern vielmehr an Bestrafung! Zunächst mal war mir meine entspannte Abi-Fahrt-Freude deutlich vermiest und bald schon begann das Grübeln: Deutschunterricht, Schule, wir Abiturienten, benotete Vergangenheit, sie liegt doch fast schon hinter uns. Ein Loblied auf die Vergangenheit als Scheffelpreisrede? Das kann’s ja wohl nicht sein! Wir stehen an der Schwelle zu Neuem, viele von uns brennen auf das Neue, Vergangenheit ist nicht unser Thema!

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Ich grübelte. Wer brockte mir denn die Abi-Rede ein? Mein Deutsch-Abitur! Ich hatte die Pflichtlektüre gewählt. Wir wurden im Unterricht gut auf dieses Thema vorbereitet, genau dieser Unterricht gab mir den Impuls zum Weiterdenken, Reflektieren und eigenständigen Suchen nach Lösungen für die Konstellationen in den drei Pflichtlektüren. Das gemeinsame Themenfeld von „Homo faber“, „Agnes“ und „Dantons Tod“ hieß „Identität und Rolle“. Und schlagartig wurde mir klar, das ist mein Thema für diese Abi-Rede. „Identität und Rolle“, das ist keine benotete Schulvergangenheit, das ist zu lebende Zukunft, das ist Aufgabe und Herausforderung für uns alle.

Gehen Sie bitte mit mir zusammen diese Herausforderung an – Schritt für Schritt!

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Warum lesen wir? Weil uns dieses eine graue, unspektakuläre Leben zu wenig ist. Wir tauchen ein in neue Welten, wir nehmen Rollen an, wir identifizieren uns mit Personen unserer Sehnsucht, wir werden für Stunden, Tage oder gar Wochen zu diesen Personen, lieben und leiden, freuen und weinen mit ihnen – und vergießen dabei auch unsere Tränen, wir sind zu diesen Personen geworden. Wir können wie im Traum Neues ausprobieren, die Perspektiven ändern und sehen am Ende des Buches, wohin das führen kann. Wir können in Büchern auf Lebenswege zurückblicken – als Ermutigung oder als Warnung.

Und der rote Faden unserer Pflichtlektüre ist die Warnung. Alle drei Werke zeigen verfehlte Leben: Rolle, Identifikation, aber keine Identität. Genau darum kreisten unsere Diskussionen im Unterricht. Und diese haben sehr viel mit uns zu tun – weit über Deutsch-Unterricht, Abitur und Abi-Ball hinaus.

Ich weiß nicht, ob Sie das Lied kennen: „Schlag nach bei Shakespeare, bei dem steht was drin“. Im zweiten Akt von „Wie es euch gefällt“ wird es auf den Punkt gebracht:

Die ganze Welt ist Bühne

und alle Fraun und Männer bloße Spieler.

Sie treten auf und gehen wieder ab,

sein Leben lang spielt einer manche Rollen,

durch sieben Akte hin.“

(„All the world ́s a stage…“ Shakespeare: As you like it, II,7)

Provozierend uns gefragt: Soll das unser Leben sein, unsere Zukunft? Wir treten auf und gehen ab und spielen manche Rollen. Wir Rollenträger einer Gesellschaft, eines Systems, das uns Rollen überstülpt, uns in vorgestanzte Formen zwingt, ohne nach uns, unserer Persönlichkeit, unserem freien Willen zu fragen? Rolle definiert, Rolle zwingt, aber fragt nicht nach dem Ich. Eine Rolle identifiziert, aber führt nicht zur eigenen Identität.

Die drei Hauptpersonen der Pflichtlektüren geben ein erschreckendes Beispiel, wie die Identifikation mit Rollen zu einem verfehlten Leben führt.

In Max Frischs „Homo faber“ hat sich der Ingenieur Walter Faber sich selbst in die Rolle des Mannes und Technikers gezwängt, ohne ihr gerecht werden zu können, und beweint am Ende sein verfehltes Leben.

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In dem modernen Roman „Agnes“ zeigt uns Peter Stamm die Beziehung zweier Menschen, bei der der Ich-Erzähler eine Geschichte über sich und seine Freundin Agnes schreibt und verlangt, dass sie in der Realität der Fiktion, also der Geschichte, folgt. Agnes identifiziert sich vollkommen mit der vorgegebenen Rolle und verfehlt mit dieser Identifikation ihre eigene Identität und begeht am Ende vermutlich Selbstmord.

In beiden Werken führt Rollenidentifikation ohne Identität zum Scheitern.

Nun zum dritten Werk, dem anspruchsvollsten: „Dantons Tod“ von Georg Büchner. Im Zentrum Danton, ein Macher der Französischen Revolution, der im weiteren Verlauf resigniert und nicht mehr bereit ist, für das eigene Handeln Verantwortung zu übernehmen. Er und seine Freunde bezahlen diese Passivität mit dem Leben. Für Danton sind wir alle „Puppen […] von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!“ (S. 43).

Und die Frage an uns Abiturienten: Wer sind die Strippenzieher, die uns zu Marionetten machen? Geben wir ihnen das Recht, unser Leben zu formen, gar zu verformen. Oder anders gefragt: Wer macht uns zu dem, wer wir sind?

Ich mache jetzt mit dieser Fragestellung einen Sprung von der Französischen Revolution zu uns, zur sogenannten „Generation Y“, konkret zu dem, was uns formt, zuweilen verformt:

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Einerseits sind dies unsere Eltern. Als „Generation Y“ grenzen wir uns von unseren vorherigen Generationen ab. Uns wurde bereits in jungen Jahren vermittelt, dass wir alles erreichen könnten, weil wir etwas ganz Besonderes seien. Die Bedeutung des Besonderssein verliert jedoch seine Wirkung, wenn jeder dieses Denken eingetrichtert bekommt. Und genau das ist das Problem unserer Generation. Wir können es einfach nicht akzeptieren, viel zu arbeiten und nach Jahren immer noch nichts Außergewöhnliches erreicht zu haben. Die Realität entspricht nicht unseren unrealistischen Vorstellungen und Erwartungen. Wir können dem Rollenbild, dem wir selbst entsprechen möchten, das uns vermittelt wurde, nicht gerecht werden. Die Folge ist eindeutig: Wir sind unglücklich, fühlen uns als Gescheiterte!

In Wirklichkeit sind wir bloß Marionette der Normen und vorgegaukelter Ideale unserer Kultur und Gesellschaft. Vor allem zeigt sich dies in den Medien, schließlich ist jedem klar, was Castingshows wie „Germanys next Topmodel“ mit jungen Mädchen anrichten, wenn sie abgemagerte junge Frauen sehen: Sie übernehmen – ohne zu hinterfragen – eine Rolle und zwängen in diese ihren Körper – rücksichtslos, gnadenlos, erbarmungslos. Sie identifizieren sich mit der vorgegebenen Rolle „Model“, ohne nur eine Spur eigener Identität zu erlangen. Sie spielen essgestört ihre Rolle, der sie nie gerecht werden können, sie gewinnen so keine Identität, vor der sie selbst bestehen können, sie sind weibliche Homo Faber, die einer Rolle nachjagen, aber nie bei sich ankommen. Das lehrt uns die Pflichtlektüre von Max Frisch.

Nun zurück zu uns Abiturienten: welche Bedeutung hat dies nun für unser Leben? Welche Möglichkeiten gibt es für uns von der Identifikation zur Identität zu gelangen?

Generell gibt es kein Rezept dafür, zu sich selbst zu finden, manch einer sieht seine Erfüllung im Sport, ein anderer identifiziert sich mit Kunst. Wer jedoch seine wahre Identität findet und zu verwirklichen vermag, der weicht von der Norm ab und unterscheidet sich von seinen Mitmenschen. Seine eigene Identität zu leben, bedeutet, auch einmal gegen den Strom zu schwimmen, anzuecken und sich in keine Rolle zwängen zu lassen. Jeder von uns muss diesen Weg alleine gehen, wobei die eigene innere Stimme des Lebens uns führt.

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Wir Abiturienten stehen vor einem großen neuen Lebensabschnitt und müssen die Frage nach unserer Identität beantworten, um vor uns selbst bestehen zu können. Das bedeutet nun für uns, es besser zu machen als die Protagonisten und uns auf die Suche nach uns selbst zu begeben, um unser eigenes Ich zu finden, um in der Rückschau sagen zu können: „Ich habe gelebt!“

Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre und eure Aufmerksamkeit und wünsche noch einen schönen und unvergesslichen Abend!

Scheffelpreis-Rede: Stefanie Geiger

Fotos: Wolfgang Geiger

 

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