Thomas Mann: „Mario und der Zauberer“ – Interpretation in Briefform

Liebe Schülerinnen und Schüler,

nun ganz gerafft eine Interpretation zu Thomas Manns „Mario und der Zauberer“. Entscheidend für die Interpretation ist die Frage: „Ist die Novelle nur ästhetisch schön oder politisch aktuell?“ Meine Position gründet auf der Entstehungsgeschichte: Das geschilderte Erlebnis bezog sich auf den Familienaufenthalt der Manns in dem italienischen Badeort Forte dei Marmi (Ligurien). Dann ruhte das Erlebte drei Jahre in der Erinnerung Manns bis zum Spätsommer 1929, als die Familie sich zu einem Badeurlaub in einem ostpreußischen Ostseebad aufhielt. Nun wollte der Dichter seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Schreiben, nachgehen, aber ohne seinen Zettelkasten, sondern es nur aus sich fließen lassen. So saß er im Strandkorb nahe am Wasser und schrieb sich in die Vergangenheit zurück. In diesen drei Jahren hatte sich jedoch in Deutschland politisch viel verändert, die Nationalsozialisten waren im Kommen, was Mann sehr beschäftigte. Ende 1929 erhielt er für „Die Buddenbrooks“ den Nobelpreis und „Mario und der Zauberer“ war das erste Werk nach dieser höchsten Auszeichnung. Die Novelle erschien 1930 und im gleichen Jahr hielt Mann seine „Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft“ (Mahnrede angesichts des Stimmenzuwachses der NSDAP). Er verließ seinen Dichter-Olymp und positionierte sich zugunsten der Sozialdemokraten. Die Rede wurde massiv von SA-Männern gestört. In der Novelle vermischten sich Erinnerung mit Sorgen um Deutschland. Die Verführbarkeit der Menschen wird zum zentralen Thema, ohne dass man Cipolla eins zu eins auf Mussolini oder Hitler beziehen kann. Meine Deutung ist folglich eine politische.

Schon die Erlebnisse am italienischen Strand sind für Mann ein Rückfall in überwunden geglaubte Zeiten. Die kurze Nacktheit des achtjährigen Töchterchens am Strand wird zur „Staatsaffaire“ mit einer Buße auf dem Polizeirevier. Das Nationale verhindert das Zueinander zwischen den deutschen Kindern und den italienischen. Die Abgrenzung voneinander irritiert die beiden jüngsten Manns sehr und wird ihnen von den Eltern als „Krankheit“ dieser Leute erklärt. In dem zwölfjährigen Fuggièro kumuliert das 1926 erlebte Strand-Böse: potthässlich, nationalistisch, voller Wehleidigkeit – kombiniert mit einer ans Lächerliche grenzenden Theatralik – gepaart mit einer hinterhältigen Bosheit, mit der er – wie zufällig – die Sandburgen der anderen Kinder zerstört. Mit Fuggièro werden die Manns auf Cipolla eingestimmt, diesem gehören 2/3 des Werkes, seine Verführungskünste werden nicht nur beschrieben, sondern mit seinen eigenen Worten vertieft, gar offenbart, übertragbar auf alle Verführer. Warnung vor ihnen und Bewunderung für sie gehen in Mann Hand in Hand. Er ist nicht der Souveräne, sondern als Zuschauer einer, der sich dem Sog, dem Faszinosum Cipolla nur schwer entziehen kann. Das tödliche Ende ist für Mann befreiend, aber nicht durch den hohen Literaten herbeigeführt, sondern durch einen „tumben Tor“, durch einen einfachen, wenig differenzierten Geist – im Vergleich zu Thomas Mann –, durch den schwerblütigen Kellner Mario, der die Herzen der beiden Mann-Kinder erobert hat. Intellektualität schützt vor Verführung nicht. Die Bloßstellung des menschlich Inneren, ein Tabubruch, lässt das empörte Nein zur tödlich entschlossenen Tat werden, für die der hochgepriesene literarische Geist Thomas Mann nur dankbar ist.

Cipolla ist wie Fuggièro hässlich und boshaft. Fuggièro beherrscht den Strand, Cipolla bei seiner Vorstellung die Menschen. Humorlos, voller Eigenliebe und Empfindlichkeit präsentiert er sich dem Publikum, voll Neid und Missgunst auf die wohlgestalteten jungen Männer. Er findet nur in der Erniedrigung anderer seine Bestätigung, in der subtilen Vergewaltigung von ihnen. Er zwingt und zwingt doch nicht! Cipolla erfasst intuitiv die Menschen, er holt sie bei ihren Wünschen ab, die er mit ungemeinem Einfühlungsvermögen aus ihnen lockt, nicht Zwang, sondern gelenkte Verführung, sodass sie glauben, bei sich anzukommen, endlich ganz eins zu sein mit ihren Wünschen, bis der zischende Ton der Reitpeitsche die Beglückten ihrer Illusion beraubt und sie wieder in die Wirklichkeit wirft.

Das Erspüren des Gemeinschaftswillen lässt Cipolla die Nadel im Schuh der Engländerin finden und den vom Publikum ausgemachten Text auf Französisch andeuten. Es ist dieses Wechselspiel von Publikum und Zauberer, von Befehlen und Gehorchen – wie „Volk und Führer ineinander einbegriffen“, was Cipolla beherrscht, dem Thomas Mann auch Schritt für Schritt erliegt. Weiter diese kunstvoll gesetzte Sprache, mit der Cipolla alles erklärt, sich in den Willen der anderen stiehlt und letztendlich – trotz anfänglicher Antipathien im Publikum – es für sich gewinnen kann. In diesem Amalgam, in diesem Gemisch von Fremd- und Eigenwillen – sich gegenseitig bedingend – ohne jede kritische Distanz liegt die Warnung Manns an seine Leser.

Reflektiert und wahrt die notwendige Distanz zu all den Verführungen der heutigen Zeit, die euch einlullen! Verlernt das Nein-Sagen nicht, so Manns Botschaft!

Klaus Schenck

Arosa – Ort der Stille und der Inspiration

Es ist ein inspirierendes Gefühl, an dem Ort sich in Werke von Dichtern zu vertiefen, die hier einige Zeit verbrachten und für die der Arosa-Aufenthalt eine entscheidende Lebenswende bedeutete. Die Fotos von Thomas Mann und Hermann Hesse stammen aus dem Heimatmuseum Arosa.

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Über den Autor

Klaus Schenck unterrichtete die Fächer "Deutsch", "Religion" und "Psychologie". Er hatte 2003/04 die Schülerzeitung "Financial T('a)ime" (FT) zunächst als Printausgabe ins Leben gerufen, dann 2008 die FT-Homepage, zwei Jahre später die FT-Sendungen auf YouTube (www.youtube.com/user/financialtaime) , zusätzlich ist noch seine Deutsch-Homepage (www.KlausSchenck.de) integriert, sodass dieses "Gesamtpaket" bis heute täglich auf rund 1.500 User kommt. Mit der "FT-Abi-Plattform" wurde ab 2014 das Profil für Oberstufen-Material - über die Schülerzeitung hinaus - geschärft, ab August 2016 ist wieder alles in einer Hand, wobei Klaus Schenck weiterhin die Gewichtung auf Schulmaterial beibehält und die Internet-Schülerzeitung (FT-Internet) bewusst auch für andere Interessierte öffnet.

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