Überzeugung durch Erlebtes:

‚ZU WENIG MUT TUT NICHT GUT!‘ und ‚Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten!‘

Lieber Klaus Schenck, liebe Schüler,

der erste Satz der Überschrift bezeichnet eine schmerzvolle Erfahrung, die sich durch mein ganzes Leben zieht. Ich war leider nur selten in meinem Leben mutig. Ich glaube, dass dieser Leitspruch aber nur von denjenigen Schülern beherzigt werden sollte, die von sich selbst wissen, dass sie etwas zu ängstlich und zaghaft sind. Oder von denjenigen, die zu wenig Aufmerksamkeit (z.B. in der Familie) erfahren und daher wenig(er) Selbstbewusstsein entwickelt haben. Vor allem die jungen Frauen trauen sich zu wenig zu. Ihr Mädels meldet euch oft nur, wenn ihr hundertprozentig oder zumindest relativ stark davon überzeugt seid, dass eure Antwort oder euer Beitrag korrekt und gut ist. Jungs und junge Männer sind da mutiger und plappern eher mal drauflos. Das ist übrigens ein wissenschaftlicherwiesener Fakt, also, Buben, haltet die Luft an und regt euch nicht auf!

Eine der wenigenmutigen Taten meines Lebens war es, mit Anfang 20 (trotz gerade erst kennengelernter erster großer Liebe) für 1 Jahr nach Kanada (Kitchener/ Waterloo in der Provinz Ontario) gezogen zu sein. Ich studierte dort Germanistik, schnupperte in ein paar englische Seminare rein (es blieb nur beim Schnuppern, denn mit Anfang 20 versteht keiner, der nicht Native Speaker ist, Finnegan’s Wake!), verbesserte mein Englisch, lernte viele irre schräge Typen kennen und machte einen Extraabschluss: neben meinen deutschen Abschlüssen erwarb ich hier einen kanadischen M.A. (Magister Artium) in Germanistik. Meine Magister-bzw. Staatsexamensarbeit „Schülerromane der Jahrhundertwende als Spiegel der gesellschaftlichen und bildungspolitischen Zustände im Wilhelminischen Kaiserreich“ wurde mit 1,0 bewertet und sollte veröffentlicht werden. Langer Rede, kurzer Sinn, ich bin da völlig allein hingeflogen, musste mir ’ne Bleibe suchen und mich dort zurechtfinden – und dort ein ganzes Jahr überleben, ohne Freunde und Familie aus Deutschland. Das war eine der wertvollsten Erfahrungen meines Lebens. Also – geht ins Ausland; es muss nicht für einganzes Jahr sein, ein paar Monate sind auch okay. Nabelt euch ab von allseits hilfreich bereit stehenden Lehrern, Eltern, Geschwistern und Freunden! Ihr werdet viel Stolz und Selbstvertrauen dadurch gewinnen und ihr werdet stärkerund härter fürs Leben werden. Und glaubt mir, für die meisten von euch wird das Leben erst nach der Schulzeit schwierig und hart!

Ein weiteres Puzzleteilchen meiner Lebensphilosophie ist, macht euch früh (realistische)Gedanken über eure berufliche Zukunft. Ich persönlich hatte zwar einen anderen(künstlerischen) Traumberuf als den, Lehrer zu werden, allerdings ließ der sich mit meiner (bescheidenen finanziellen) Herkunft nicht realisieren. Also habe ich einen Beruf aus meiner zweiten „favourite group“, dem pädagogischen Bereich, gewählt. Damit kann man auch leben. Denn man kann seine Passion auch zum Hobbymachen, man muss sie nicht völlig aufgeben, bloß weil man sie nicht zum Berufmachen kann. Ich wünschte, dass ihr Schüler nicht nur früher über potentielle Berufe nachdenken würdet, sondern auch mehr Berufe und Bereiche in Betracht ziehen würdet. Es kann nicht jeder Bank-, Büro- oder Industriekaufmann werden. Macht auch mal Praktikantin technischen, IT- und naturwissenschaftlichen Berufen! Seid nicht so fixiert auf nur einen Beruf!

Eine wichtige Tugend ist Flexibilität und Mobilität. Gerade hieran mangelt es euch Landkindern z.T. gewaltig. Ich wäre auch gern in meiner Geburtsstadt Mannheimgeblieben, aber ich musste aus finanziellen Gründen dem Beruf hinterherziehen.

Zu Goethes ,Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten‘. An diesem Motto ist unschwer zuerkennen, dass ich es nicht sehr leicht im Leben hatte. Ich bin sozusagen der lebende Beweis, dass die PISA-Aussage, dass Kinder aus „bildungsfernen und sozial bzw. finanziell schwachen Familien“ in Deutschland keine Chance haben, Unsinn ist. Meine Mutter war Putzfrau, mein Vater Handwerker, meine drei älteren Geschwister haben nur einen Hauptschulabschluss, zwei von ihnen sind die Karriereleiter – gemessen an ihrem niedrigen Bildungsabschluss – enormhochgeklettert, verdienen heute mehr als ich und bekommen mal zur staatlichen und privaten Rente noch eine fette Betriebsrente. Was will ich euch damit sagen? Ich will euch sagen, dass es zwar tatsächlich so ist, dass es Kinder aus finanzschwachen Familien schwerer haben als Kinder aus gutbürgerlichem, finanzkräftigem Haus. Allerdings muss man halt auch ein bissl Biss haben, sich durchkämpfen, fleißiger sein als die, deren Eltern den privaten Nachhilfelehrer mit links aus der Portokasse zahlen.

Ich selbst habe schon während der Schulzeit eigenes Geld verdient (jedoch nur in Schulferien!),während des Studiums habe ich jahrelang mehrmals wöchentlich Nachtschichten im Briefzentrum der Post geschoben (Arbeitszeit: 22 Uhr abends bis 6 Uhr morgens; oder länger, wenn noch nicht alle Pakete verworfen und alle Groß- und Kleinbriefe sortiert waren). Natürlich hat sich mein Studium dadurch enormverzögert, ich bin ja morgens nach der Arbeit erst frühestens um 7 Uhr ins Bettgekommen – und um 9 oder 10 Uhr gingen schon wieder die Seminare an der Uni los. Zuhause durfte ich zwar wohnen, musste aber Geld abgeben. Mein erstes gebrauchtes Auto konnte ich mir erst mit 28 Jahren leisten, es war ein uralter (verrosteter) hässlich-roter Opel Corsa. Zwei Jahre später war die Handbremse im Winter festgerostet und der Boden fiel fast durch. Ich habe erst im Oktober 2006 mein BAFÖG abbezahlt, im März 2007 bezahlte ich die letzte Rate für mein erstes, eigenes Auto, das drei Jahre zuvor noch ein Neuwagen gewesen war. Also langer Rede kurzer Sinn: jammern hilft nix, wenn man nun mal in eine Familie ohne Geld und Bildung reingeboren ist, hat man es zwar schwerer, muss mehr leisten, auf mehr verzichten, aber mit mehr Fleiß, Biss und Leistung wie andere kommt man genauso weit, nur halt nicht so schnell. Das Leben schenkt euch nichts und trotzdem dürft ihr dem Leben und euch selbst vertrauen. Der Mensch hält viel aus, denn er kann sich „allen Gewalten zum Trutz erhalten“.

Euch allen wünsche ich viel Mut, Selbstvertrauen, Flexibilität, Biss, Disziplin, den Glauben an eure Stärke(n) und die Stärke, die Härten des Lebens auszuhalten, ohne daran zu zerbrechen!!! Das Leben ist schön, spannend, satt und saftig – aber eben nicht immer. Es ist nicht dazu da, dass wir immer Spaß haben, glücklich sind, es leicht haben! Einer der größten Irrtümer der Menschheit für mich ist, dass Arbeit Spaß machen soll, so ein Quatsch. Arbeit soll befriedigen, sie soll einem das Gefühl geben, dass man etwas geleistet hat, auch und gerade für andere. Sie soll Sinn stiften und zufrieden machen. Macht man Fehler und wird dafür gerügt, soll man über Ursachen nachdenken, reflektieren, Dinge anders machen, wieder demütig werden und erkennen, dass man immer, egal wie alt man ist, noch etwas dazulernen kann, sich noch weiterentwickeln soll, nicht der Arroganz verfallen und sich einbilden soll, man sei besser als andere.

Eure Silvia Diana Müller

Materialien für Lehrer und Schüler

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