Vom Glück des Lehrers

Lehrer sind Glückspilze. Manchmal wenigstens. Mir passierte es nach über 25 Jahren Dienstzeit, so um die fünfzig, dass ich mich fragte: Machst du so weiter wie bisher oder schaust du dich um in der Welt, was man da so über das Lernen weiß? Dieser Perspektivenwechsel von der schulischen Innenschau zum Blick nach draußen hat mein Lehrerleben total geändert. Plötzlich war ich zum lernenden Lehrer geworden, von einem, der lernen ließ, zu einem, der selbst ständig Neues aufnahm. Das Lernen zu lernen war damals noch kein Thema, wohl aber der Schulstress. Ich lernte eine Menge über Entspannung und zwar nicht nur lesend, sondern übend und ausprobierend. Und ich begann, meine eigene neue Erfahrung meinen Schülern weiter zu geben. Mit verblüffenden Ergebnissen. Manche konnten beispielsweise plötzlich fast fehlerfreie Diktate schreiben. Offenbar hatte echte Entspannung etwas Wesentliches bewirkt: Die Angst war weg und das Gehirn war frei, sein Bestes zu geben. Mut und Zuversicht entwickelten sich, wo bisher Angst und Selbstzweifel das Regiment führten und eher das Versagen als das freie Lernen gefördert hatten.

Vor 25 Jahren war das nicht ungefährlich, zumal für einen, der als „linker Schulleiter“ unter kritischer Beobachtung der Schulaufsicht stand. Wenn der nun plötzlich von sich reden machte, weil er seine ganze Klasse auf den Boden liegen ließ und mit den Kindern Autogenes Training übte, hätte leicht jemand den Hammer gegen ihn schwingen können. Aber es geschah das Gegenteil. Die Schulräte, denen ich davon erzählte, reagierten interessiert und aufgeschlossen. Außerdem suchte ich nach Gleichgesinnten im Kollegium, die nicht nur bereit waren, sich selbst auf den Weg des Lernens und Experimentierens zu machen, sondern auch den aktiven Austausch darüber zu pflegen. Ich begann mit den Kindern in den Klassen fünf und sechs zu arbeiten, welche die größten Rechtschreibschwierigkeiten hatten. Jede Deutschlehrerin der jeweils fünf oder sechs Parallelklassen benannte diejenigen zwei bis drei Kinder mit den größten Problemen auf diesem Gebiet, so dass ich mit bis zu 15 Kindern zwei Wochenstunden Rechtschreibtraining auf neue Art machte. Mit denen arbeitete ich dann, so lange es nötig war, bis zu zwei Jahre lang. Es gehört zu den schönsten Erfahrungen meines Lehrerlebens, welche Freude bei den Kindern immer wieder aufkam, wenn sie selbst ihre Fortschritte feststellten. Und nicht zuletzt war diese ganze Arbeit meiner eigenen Gesundheit förderlich. Wo andere ständig vom (wie man heute sagt) Burnout bedroht waren, spürte ich einen unglaublichen Motivationsschub durch das neue Lernen ohne Stress.

Wir blieben aber nicht dabei stehen, sondern reicherten unser System mit neuen Lerntechniken an. Die Lernkartei nach Sebastian Leitner hielt Einzug und um das Jahr 1990 hatten unsere Schüler bereits an die 600 dieser kleinen Handlernmaschinchen in Betrieb. Frederic Vesters „Regeln aus der Lernbiologie“ wurden eine Art pädagogische Handlungsanweisung. Lerntrainer wie Vera Birkenbihl und Tony Buzan wurden zu weiteren Quellen mit dem Effekt der Erleichterung und Effizienzsteigerung des Lernens. Das rasch wachsende Wissen der neuen Hirnforschung über das Lernen gab unseren Bemühungen den wissenschaftlichen Halt. Unser Ehrgeiz bestand in einer Art Lerngarantie. Es sollten möglichst alle Kinder die Schule mit Erfolg durchlaufen. Das, was dem Friedrich-Schiller-Gymnasium Marbach 2007 den deutschen Schulpreis als einer der fünf besten Schulen einbrachte, keimte bei uns ab dem Jahr 1988: Alle kommen ans Ziel. Als einmal eine zehnte Klasse um das Halbjahr in der totalen Krise stand, weil mehr als die Hälfte der 28 Schüler nicht die Versetzungsbedingungen erfüllte, beriet ich mit der Klassenlehrerkonferenz, den Schülern selbst, den Eltern. Im Gespräch mit den Lehrern hatte ich die Frage gestellt: Können Sie sich vorstellen, ab sofort nicht mehr vom drohenden Scheitern in der Prüfung zu sprechen? Sie konnten! Angst machen verboten wir uns selbst, aber Hoffnung verströmen wollten alle: Ihr schafft es! Nur Mut! Und was damals alle für unmöglich hielten, wurde wahr: Keiner fiel durch die Prüfung und alle konnten sich in der kurzen Zeit deutlich verbessern.

Lernende Lehrer sind bessere Lehrer. Diese Erkenntnis entstand in einem Prozess des Erwerbs neuer Lernerfahrungen, die wir jeder für sich und im Team gemeinsam ständig erweiterten. Visualisierung wurde zu einem Zauberwort des Lernens, wobei es uns nicht um äußere Bilder ging, vielmehr um die visuelle Vorstellung, die innere Verknüpfung von Wissen und Bildern. Und bei mir geht es seitdem noch immer darum. Die Fertigkeit der alten Griechen und Römer auf diesem Gebiet, Insidern bekannt als Loci-Technik, bekam hohe Aktualität und offenbarte in Verbindung mit modernen mentalen Methoden ihre wahre Zauberkraft. Gregor Staub, der bekannte Schweizer Lerntrainer, hat darin in jüngster Zeit eine wahre Meisterschaft entwickelt. Ich bin zwar inzwischen längst pensioniert, aber gerade im Alter entfalten diese Fertigkeiten ihre neue Bedeutung: Lernen hält geistig fit. Und es fördert die Kreativität. Schauen Sie selbst unter www.megamemory.de. Und probieren Sie es aus. Sie werden über sich selbst staunen! Das Lernen zu lernen, das eigene Instrumentarium zu optimieren, das gewinnt in Zeiten rasch wechselnder Anforderungen immer mehr an Bedeutung. Lehrer, die ihre eigenen Schüler mit entscheidenden lernmethodischen Tipps und Techniken unterstützen können, werden unabhängig von ihrem Fach immer wichtiger als Lerncoachs; denn Schüler, die mentale Lernfertigkeiten sicher zu beherrschen gelernt haben, gehen gut gerüstet ins Berufsleben und in jedes Studium. Sie haben etwas fürs Leben gelernt, das weit über den Schulstoff hinaus reicht. Es ist wie leben auf einer Metaebene des Lernens. Es wird in Jahren vielleicht so selbstverständlich werden wie Lesen und Schreiben, eine neue Kulturtechnik des Lernens.

Eine wichtige Erfahrung konnte ich leider erst im Ruhestand machen, den Unterschied zwischen zwei Arten des Gedächtnisses, des deklaratorischen und des prozeduralen, zwischen dem Wissens- und dem Könnensgedächtnis. Im Prinzip kennt den jeder Lehrer, aber was er wirklich bedeutet und warum das so ist, das habe ich ehrlich gesagt sehr spät gelernt, zu spät, als dass ich es noch an meine Schüler hätte weiter geben können. Als schönes Beispiel für die Funktion des prozeduralen Gedächtnisses habe ich das Zehnfingersystem an der Computertastatur ausprobiert und festgestellt: Mein über 70 Jahre altes Gehirn schafft das noch bis hin zu dem Punkt, da ich die Tasten nicht mehr bewusst suchen muss. Wenn die Finger die Tasten blind finden, hat das zuständige Zentrum im Gehirn die entsprechende „Karte“ angelegt. Ein Beispiel auch für die Plastizität unseres Gehirns, die lebenslang erhalten bleibt. So wird auch das Lesen und das Schreiben gelernt: Üben, üben, üben. Früh im Leben. Leider wird den Kindergehirnen heute nicht mehr genügend Übungszeit dafür gegeben oder gelassen. Das rächt sich dann mit Unsicherheit und zeigt sich darin, dass fast ein Viertel der Zwanzigjährigen noch immer damit zu kämpfen hat und die Klagen aus Wirtschaft und Gesellschaft nicht verstummen, dass es viel zu vielen jungen Menschen an den elementaren Fertigkeiten in diesen so genannten Kulturtechniken mangelt. Für sicheres Wissen genügen einige Wiederholungen, für das Wachsen einer unbewusst funktionierenden komplexen Fertigkeit wie der des Lesens braucht es Jahre der Übung. Und am wichtigsten: Es ist nie zu spät! Nur Mut! Hilfe für jedes Alter gibt es übrigens bei www.bildungsklick.de. Auch dass das Kurzzeitgedächtnis nach 20 Minuten Informationsaufnahme eine kleine Zeit zum Speichern braucht, wurde mir erst nach der aktiven Lehrerarbeit nicht nur theoretisch, sondern auch experimentierend klar. Ich kann zwar alles verstehen von A bis Z. Wenn es aber nicht zwischendurch gesichert wird, ist es unwiederbringlich weg. Verstehen und Behalten sind zwei Paar Stiefel. Einen Vortrag von einer Stunde Dauer zu hören, alles perfekt zu verstehen, um sich am Ende das Hirn zu zermartern, was in der ersten Viertelstunde war, wer kennt das nicht? Es liegt nicht am Hörer, sondern am Redner, wenn die Zuhörer am Ende nichts behalten. Lernen ist wirklich ein ungeheures Abenteuer mit vielen Facetten und eines, das kein Geld, sondern nur etwas Selbstdisziplin kostet.

Das Glück des Lehrers (oder sollte ich doch besser sagen mein Glück als Lehrer?) kommt aus dem eigenen Lernen, dem experimentellen Lernen. Das habe ich allmählich begriffen, je mehr sich die gelebte Erfahrung in neuen Fertigkeiten verwandelte. Und es kommt zum Zweiten aus der Möglichkeit, die positiven Erfahrungen weiter geben zu können an die junge Generation, an Kollegen, die eigenen Kinder womöglich, an Freunde und alle, die sich dafür interessieren. Aber auch für sich selbst allein diese Lernfertigkeiten ständig weiter zu entwickeln, kann zu wahren Glücksmomenten führen. Nur anfangen muss man damit. Jetzt oder nie! Nach dem alten talmudischen Motto: Wer, wenn nicht du, wann, wenn nicht jetzt, und wo, wenn nicht hier! Gute Ideen, die nicht sofort umgesetzt werden, verfallen der unentrinnbaren Gesetzmäßigkeit des menschlichen Gehirns, dem Vergessen. Halten Sie es fest und fangen Sie an, so lange der Funke der Begeisterung glüht: „Das will ich jetzt wissen!“ Schließlich ist das in Zeiten des Internet kein Problem. Das Füllhorn wartet auf Sie. Was auch immer es sei, das Sie neu lernen wollen, packen Sie es entschlossen an und nehmen Sie teil am Glück des Lernens.

Bücherliste

 

Im Handel erhältliche Bücher von Horst Kasper
Stand: August 2008

Schülermobbing- tun wir was dagegen! Smob-Fragebogen mit Anleitung und Auswertungshilfe. AOL-Verlag in der Persen GmbH Buxtehude. Mit einem Beitrag von Irene Heinzelmann-Arnold. 5. Überarbeitete und erweiterte Auflage 2008

Der im Schuljahr 1998/99 erarbeitete und evaluierte Smob-Fragebogen hat sich in der schulischen Praxis als zuverlässiges Diagnoseinstrument bestens bewährt. Da er die tatsächlichen negativen Handlungen erhebt, gibt er gleichzeitig Hinweise auf erforderliches pädagogisches Handeln. Die Materialsammlung bietet dafür eine Reihe von Möglichkeiten und Empfehlungen. Einige Materialien, darunter der Smob-Fragebogen (PDF-Datei) und eine Auswertungsstatistik, stehen zum Download bereit unter www.aol-verlag.de/5713.

Lehrerhandbuch Konfliktmanagement. Im Garten des Menschlichen.
AOL-Verlag Lichtenau 2004a

Arbeitsmappe Konfliktmanagement in der Schule.
AOL-Verlag Lichtenau 2004b

Handbuch und Arbeitsmappe enthalten Ideen und direkt einsetzbare Arbeitsmaterialien zur Unterstützung der Konfliktprävention und -bereinigung. Sie sind entstanden, um die Arbeit für ein gutes zwischenmenschliches Klima und eine konstruktive Arbeitsatmosphäre zu fördern und setzen dabei auf die Stärkung der Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler. Sie sind damit auch für die Mobbingprävention nützlich. Viele der Materialien stehen beim Verlag zum Download zur Verfügung.

Wer mobbt, braucht Gewalt. Das Handbuch für die mobbingfreie Schule.
Süddeutscher Pädagogischer Verlag Stuttgart 2004c

Nicht nur Schüler, auch manche Lehrer sind von Mobbing betroffen. Dieses Buch ist als Nachfolgewerk für das leider nicht mehr erhältliche Buch des Verfassers „Mobbing in der Schule“ entstanden und stellt einen wertvollen Helfer für Betroffene wie Beobachter des Mobbing dar mit wichtigen Tipps und Informationen.

Nicht mehr und derzeit nicht im Handel erhältliche Bücher von Horst Kasper nach ihrem ersten Erscheinen

1993: Unterwegs zur kreativen Schulpraxis. AOL-Verlag Lichtenau
1995: Kreative Schulpraxis. Vom Unterrichtsprojekt zum Schulprogramm. AOL-Verlag Lichtenau
1998: Mobbing in der Schule. AOL-Verlag Lichtenau und Beltz Weinheim
2001: Streber, Petzer, Sündenböcke. AOL-Verlag Lichtenau
2003: Prügel, Mobbing, Pöbeleien. Cornelsen Scriptor Berlin
2005a: Handbuch der kreativen Lernpraxis. AOL-Verlag Lichtenau
2005b: Methodentraining der kreativen Lernpraxis. AOL-Verlag Lichtenau

Artikel: Horst Kasper

Foto: Guido Kasper

Materialien für Lehrer und Schüler

  

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