Wolfgang Koeppen: „Tauben im Gras“ – Interpretation in Briefform

Hinweis: Ich benutze die Wörter aus dem Roman und die Sprache, die dem Werk entspricht, was euch hilft, die Aussage des Romans besser zu verstehen und ihn leichter zu interpretieren! Klaus Schenck

Liebe Schülerinnen, liebe Schüler,

„nach 30 Seiten wird der Leser, erschöpft und leicht verwirrt durch die vielen Menschen und die verschiedenartigen Assoziationen, das Buch weglegen…“, das schreibt der Verleger Goverts in einem Brief an Koeppen nach Erhalt der letzten Manuskriptseiten. Ihr werdet vermutlich gar nicht bis Seite dreißig kommen und schon vorher erschöpft und schwer verwirrt sein. Was soll das Ganze? Verrückte Menschen, nicht unsere Zeit und ein bescheuerter Titel.

Tauben im Gras“ – Zitat von Gertrude Stein aus dem Englischen – beschreibt die Menschen, die vor lauter Alltagssorgen und -problemen nur pickend nach unten blicken, ihre Bedürfnisse befriedigen, sich nur dem Zufall hingeworfen fühlen, ihm ausgeliefert. Der Gegenvogel ist die Elster, die mit dem Kopf nach oben fliegt, folglich Gefahren sieht. „Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel… Die Auguren lächelten. Niemand blickte zum Himmel auf“, so der Romanbeginn. Auguren sind Priester, die anhand des Vogelflugs die Zukunft voraussagen. Koeppen ist ein Mahner, ein Warner, ein scharfer Beobachter der Nachkriegszeit. Ihm geht es um die nicht aufgearbeitete Vergangenheit des Dritten Reiches, seiner Rassengedanken, seiner Werte, die weiterhin in den Personen präsent sind („Neger und Juden sind gleich“) – ohne Reue, Trauer, Scham. Er will diese Kontinuität an fast allen Figuren seines Romans zeigen.

Es sind Menschen im Werte-Gefängnis der Vergangenheit, ein Vergangenheits-Schneckenhaus als Rückzugsort bei allen Problemen der Nachkriegszeit: In der eigenen Gegenwart nicht angekommen ist ein Miteinander unmöglich, das Gespräch wird verweigert – so Mutter und Tochter Behringer. So auch der Schauspieler Alexander, im Dritten Reich noch „Ritterkreuzheldenflieger“-Mime, nun der „Erzherzog“ in seichten Schnulzen, ein Idol damals, heute nur noch ein Schatten seiner selbst, der seinen Heldenüberdruss in nächtlichen Gelagen wegfrisst, wegsäuft, weghurt. Passend seine Frau, das Party-Monster-Weib Messalina, derb, zugesoffen und Schreckgespenst allen Mitmenschen. Die eigene Leere wird mit Leeren der Flaschen weggeleert – und ist doch ständig präsent.

Im Werte-Gefängnis auch die „Lumpenprinzessin“ Emilia: Die finanziellen Werte ihres Großvaters, die sie sichern sollten, sind weg. Sie tobt, wütet, säuft gegen das Schicksal an, verdammt alle, die älter sind als sie, vergangenheitsfixiert und voller Schuldvorwürfe gegen Gott, Welt und Ehemann.

Zwei Schriftsteller, komplett unterschiedlich in gesellschaftlicher Hinsicht, ähneln sich in ihrer Melancholie, in ihrem Zweifel, in ihrem Scheitern in einer Welt, in der sie nichts mehr zu sagen haben, in die sie nichts mehr zu geben wissen – nur noch Beobachter ohne Antwort. Verräter an ihrer Aufgabe – ohne Ziel, Hoffnung und Zukunft.

Einzelpersonen vermengen sich im Geist der Vergangenheit zu einer bierseligen Gemeinschaft, die bei Gerüchten, die den eigenen Vorurteilen entsprechen, sich wieder zu einem steinewerfenden Mob verklumpen, der Masse ohne Gewissen, aber mit viel Vergangenheit.

Nur wenige verweigern sich der Vergangenheits-Dunkelheit und brechen aus ihrem vorgegebenen Gefängnis aus, wie der „Neger“ Washington, der in Paris sein „Washington’s Inn“ eröffnen will mit dem Schild an der Tür „NIEMAND IST UNERWÜNSCHT“. Und an seiner Seite seine Braut Carla, die sich von den materiellen Träumen der USA verabschiedete und sich dank ihm zur Liebe und zur Zukunft durchringt und damit auch zum gemeinsamen Kind.

Die Rassismus-Frage reicht von damals bis heute, aber auch die Fragen nach gemeinsamer Kommunikation, ehrlichem Gespräch, Sein und Schein – besonders hinsichtlich „social media“. Was gibt meinem Leben Sinn, Perspektive und Zukunft, was ist meine Aufgabe als Individuum, welche Herausforderungen und Anfeindungen sind zu bewältigen? Wo funktioniere ich in einer Masse, rede wie die Masse, handele nach ihr – gegen die eigene Überzeugung? Wo bin ich „Taube“, wann werde ich „Elster“ und was bedarf es, als „Augur“ den Vogelflug richtig zu deuten, wenigstens die Warnungen zu sehen?

All die Verzweifelten, Orientierungslosen, Isolierten und Vergangenheits-Fixierten dieses Romans fragen uns nach Antworten. Finden wir für diese Menschen Antworten, haben wir für uns viel beantwortet!

Ergreifen wir diese Chance!

Klaus Schenck

Schüler-Briefe zum Werk

(alles auf ungefähr eine Textseite reduziert – in Briefform)

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Werke der Schul-Sekundärliteratur

Bauer, Dirk und Schütte, Judith: Wolfgang Koeppen: „Tauben im Gras“. EinFach Deutsch. Schöningh 201810

Grobe, Horst: Wolfgang Koeppen: „Tauben im Gras“. Königs Erläuterungen, Bd. 472. Bange Verlag 20143

Pütz, Wolfgang: Wolfgang Koeppen: „Tauben im Gras“. Reclam Lektüreschlüssel Nr. 15429, 2011

Reisner, Hanns-Peter: Wolfgang Koeppen: „Tauben im Gras“. Lektürehilfen Klett, 2013

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Über den Autor

Klaus Schenck unterrichtete die Fächer "Deutsch", "Religion" und "Psychologie". Er hatte 2003/04 die Schülerzeitung "Financial T('a)ime" (FT) zunächst als Printausgabe ins Leben gerufen, dann 2008 die FT-Homepage, zwei Jahre später die FT-Sendungen auf YouTube (www.youtube.com/user/financialtaime) , zusätzlich ist noch seine Deutsch-Homepage (www.KlausSchenck.de) integriert, sodass dieses "Gesamtpaket" bis heute täglich auf rund 1.500 User kommt. Mit der "FT-Abi-Plattform" wurde ab 2014 das Profil für Oberstufen-Material - über die Schülerzeitung hinaus - geschärft, ab August 2016 ist wieder alles in einer Hand, wobei Klaus Schenck weiterhin die Gewichtung auf Schulmaterial beibehält und die Internet-Schülerzeitung (FT-Internet) bewusst auch für andere Interessierte öffnet.

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